# taz.de -- Verfassungsschutzbericht vorgestellt: Der Hass flammt wieder auf
       
       > Antisemitische Straftaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Der
       > Verfassungsschutz warnt, die Innenminister wollen Gegenmaßnahmen
       > ergreifen.
       
 (IMG) Bild: Rabbiner Shneur Trebnik und Innenminister Thomas Strobl vor der angegriffenen Synagoge in Ulm
       
       BERLIN taz | Der Anschlag auf die [1][Ulmer Synagoge] ist gerade erst ein
       paar Tage her. Ein Unbekannter hatte eine Flüssigkeit vor die Wand des
       Gebetshauses geschüttet und angezündet. Das Feuer konnte schnell gelöscht
       werden, der Täter ist bis heute flüchtig. Zuvor wurden Kippaträger in
       Magdeburg oder Berlin attackiert, hatte es in mehreren Städten
       [2][Demonstrationen mit antisemitischen Parolen] und brennenden
       Israel-Fahnen gegeben.
       
       Antisemitische Gewalt bricht sich in diesen Tagen wieder offen Bahn –
       ausgerechnet in Deutschland. Eine Gewalt, die auch die Sicherheitsbehörden
       besorgt. Am Dienstag, als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in
       Berlin den jährlichen Verfassungsschutzbericht vorstellt, spricht
       Geheimdienstchef Thomas Haldenwang denn auch als erstes den Ulmer Anschlag
       und die Anti-Israel-Proteste an. Wieder habe man in Deutschland vor
       jüdischen Einrichtungen Gewalt erlebt und heterogene Proteste mit „hohem
       Aggressionspotenzial“. „In Deutschland ist aber kein Platz für
       Antisemiten.“ Haldenwangs Versprechen: Man werde „mit größtem Engagement“
       jüdisches Leben in Deutschland schützen.
       
       Doch nicht nur auf diesem Feld verkünden Seehofer und Haldenwang
       Beunruhigendes. Der Innenminister spricht von einem „Alarmzustand“ in allen
       Bereichen des Extremismus, von einer Sicherheitslage, die „ein dickes
       Problem“ sei. Nach wie vor stelle der Rechtsextremismus dabei die größte
       Bedrohung dar. Die Zahl der Rechtsextremisten sei um 1.200 auf 33.300
       Personen gestiegen, darunter auch Anhänger der AfD-Jugend sowie des
       früheren „Flügels“. 13.300 der Rechtsextremisten gelten als gewaltbereit,
       mehr als in allen anderen Extremismusbereichen. Auch die Zahl der
       Linksextremisten sei um 800 auf 34.330 Personen gestiegen. 9.600 werden
       hier als gewaltbereit eingestuft. Die Zahl der Islamisten stieg leicht auf
       28.715 Personen.
       
       Die Pandemie habe den Extremismus nicht lahmgelegt, sondern nur verlagert
       konstatiert Haldenwang – ins Internet oder auf die Coronaproteste, wo
       einige Teilnehmende versuchten, das Vertrauen in die Demokratie „nachhaltig
       zu beschädigen“. Die Bewegung steht deshalb seit Ende April [3][bundesweit
       unter Beobachtung]. „Extremisten gehen nicht in den Lockdown“, erklärt der
       Verfassungsschutzchef. Auch Seehofer betont, dass in der Pandemie die
       Bedrohungslage noch zugenommen habe und Rechtsextreme dem Coronaprotest
       zuletzt „ihren Stempel aufdrückten“ – antisemitische Töne inklusive.
       
       Der Antisemitismus bleibt dabei ein besonderes Problem – gerade in
       Deutschland, mit der verhängnisvollen NS-Vergangenheit. So stiegen 2020
       antisemitische Straftaten um 15,7 Prozent an, von 2.032 auf 2.351 Delikte,
       ein Höchststand seit Jahren. Für Josef Schuster, Präsident des Zentralrats
       der Juden, zeigen diese Zahlen „schwarz auf weiß, dass die Bedrohung für
       Juden in unserem Land gestiegen ist“. In der Community sei nach den
       judenfeindlichen Demos und den antisemitisch eingefärbten Coronaprotesten
       „[4][eine Verunsicherung deutlich zu merken]“, so Schuster am Dienstag zur
       taz. „Der Antisemitismus wirkt bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft
       hinein.“
       
       Mit dem Thema wird sich Seehofer deshalb auch mit den Innenministern der
       Länder auf der halbjährlichen Innenministerkonferenz (IMK) beschäftigen,
       die am Mittwochabend in Rust (Baden-Württemberg) beginnt. In gleich
       mehreren Beschlüssen soll dort dem Antisemitismus der Kampf angesagt
       werden. „Der Schutz jüdischen Lebens und die Bekämpfung des Antisemitismus
       sind unsere besondere Verantwortung und haben höchste Priorität“, erklärt
       der gastgebende Innenminister Thomas Strobl (CDU). Auch sein Thüringer
       Kollege Georg Maier (SPD) betont, dass das Thema „breiten Raum“ einnehmen
       werde. „Wir müssen diese Übergriffe sehr ernst nehmen.“
       
       Für Verfassungsschutzchef Haldenwang bleibt der Antisemitismus „eine
       Klammer, die diverse Extremisten vereint“. Nicht nur der Anschlag von Halle
       habe gezeigt, dass aus Worten Taten werden könnten. In seinem Jahresbericht
       wird der Judenhass als „wichtiges Ideologieelement“ im Rechtsextremismus
       festgehalten. Gerade in Verschwörungsideologien und im Internet erhalte
       dieser Zulauf. Juden würde dort vorgeworfen, die Weltherrschaft anzustreben
       oder „Umvolkungen“ anstreben. Sie seien die „einfache und eindimensionale“
       Antwort auf komplexe Probleme. Auf den Corona-Protesten werden zudem
       Deutschland mit dem NS-Regime gleichgesetzt, auch das Tragen von
       „Judensternen“ relativiere den Holocaust. Zugleich durchziehe der
       Antisemitismus aber auch den Islamismus – in Predigten, judenfeindlichen
       Postings bis hin zu körperlichen Attacken.
       
       ## Minister wollen antisemitische Straftaten genauer erfassen
       
       Statistisch wurden zuletzt 94 Prozent der antisemitischen Delikte als
       „rechtsmotiviert“ eingeordnet. Hier aber beginnt schon die Diskussion: Denn
       bisher werden auch Taten mit unklarem Motiv als rechts eingeordnet. Die
       CDU-Länder wollen [5][dies auf der IMK ändern] und diese Delikte künftig
       als „nicht zuzuordnen“ festhalten, wie es schon in Baden-Württemberg
       praktiziert. Daneben gäbe es die Kategorien rechts, links, „Ausländer“ oder
       religiös motiviert. „Antisemitismus kommt nicht nur von rechts“, betont
       Strobl. „Ganz gleich aus welcher Richtung, wir müssen den Antisemitismus in
       all seinen hässlichen Ausprägungen fest im Blick haben.“
       
       Dem widersprechen die SPD-Länder nicht, eine Neu-Kategorisierung lehnen sie
       aber ab. Dass antisemitische Taten bisher falsch eingestuft wurden, sehe
       man nicht, sagte Georg Maier der taz.
       
       Gemeinsam drängen die Innenminister aber darauf, Demonstrationen mit
       antisemitischem Potenzial von Synagogen zu verbannen. Hier ging
       Niedersachsen voran und verschickte schon im Mai ein Rundschreiben an die
       Kommunen mit Verweis auf das Versammlungsgesetz, wonach Demonstrationen
       eingeschränkt werden können, wenn von ihnen eine unmittelbare Gefahr für
       die öffentliche Sicherheit droht – womit Protest vor Gebetshäusern
       untersagt werden könnte. Die IMK will hier nun bundesweit einen
       Mustererlass erarbeiten.
       
       „Wer gegen israelische Politik demonstriert, der darf das in Deutschland
       tun, aber eben nicht im direkten Umfeld jüdischer Einrichtungen“, erklärt
       Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). Die Synagogen seien
       keine Symbole für die Politik des Staates Israel und dürften nicht
       missbraucht werden.
       
       ## Antisemitischer Corona-Protest
       
       Ins Visier nehmen die Minister auch den Coronaprotest. Die dortigen
       Verschwörungsideologien seien „geeignet, die freiheitliche demokratische
       Grundordnung zu delegitimieren und zu destabilisieren“, heißt es in einer
       IMK-Beschlussvorlage, die der taz vorliegt. „Dies gilt insbesondere im
       Hinblick auf die zunehmende antisemitische und staatsfeindliche Ausrichtung
       derartiger Bestrebungen.“ Die Verfassungsschutzbeobachtung sei deshalb
       „weiter zu intensivieren“ und länderübergreifend zu vereinheitlichen.
       
       Auch den Hass im Netz, der immer wieder antisemitisch aufgeladen ist,
       wollen die Innenminister noch schärfer bekämpfen. Pistorius drängt darauf,
       dass soziale Netzwerke die wahre Identität ihrer Nutzer:innen speichern
       – und bei Straftaten den Sicherheitsbehörden übermitteln. Möglich wäre auch
       eine „Log-in-Falle“: Würde ein Hetzbeitrag gemeldet, soll die Polizei beim
       nächsten Log-in des Täteraccounts dessen IP-Adresse notieren – und den
       Nutzer so ermitteln.
       
       Diskutiert wollen die Innenminister auch, die Strafen für Volksverhetzungen
       und Landfriedensbrüche, die sich gegen religiöse Gebäude wie Synagogen
       richten, zu verschärfen. Ein [6][Vorgehen gegen Reichkriegsflaggen] als
       Ersatz für NS-Symbole ist bereits vereinbart.
       
       ## Vorgehen auch gegen rechte Polizeichats
       
       Die Innenminister schauen aber auch in die Reihen der Sicherheitsbehörden.
       Dort hatten zuletzt rechtsextreme Chatgruppen in der Polizei für Empörung
       gesorgt. Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU)
       will nun volksverhetzende Inhalte von Amtsträgern in internen Chatgruppen
       in Zusammenhang mit der Dienstausübung unter Strafe stellen. Bisher braucht
       es für Volksverhetzungen eine Störung des „öffentlichen Friedens“. Eine
       solche Öffentlichkeit aber fehlt meist in privaten Chatgruppen.
       
       Die große Mehrheit der Beamten stehe hinter der Demokratie, einige wenige
       aber nicht, erklärte Sütterlin-Waack. Hier brauche es ein „klares Zeichen“.
       „Demokratiefeindliche Aussagen in Chatgruppen verurteilen wir nicht nur
       moralisch, sondern sie sollen auch unter Strafe gestellt werden.“ Dies sei
       für das Vertrauen der Bürger:innen „unbedingt erforderlich“, aber auch
       für das Ansehen der unbescholtenen Beamten.
       
       Josef Schuster lobt die Pläne. Israelfeindliche Demonstrationen und
       Reichsflaggen einzuschränken begrüße man ausdrücklich. „Auch eine präzisere
       Erfassung antisemitischer Straftaten fordern wir seit Langem.“ Zudem
       müssten im Internet und bei Messengerdiensten wie Telegram „alle
       Möglichkeiten“ genutzt werden, um Antisemitismus und Hate Speech zu
       unterbinden. Hier werde die IMK allerdings nicht reichen, so Schuster. „Da
       muss europaweit schnell gehandelt werden.“
       
       15 Jun 2021
       
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