# taz.de -- 100 Jahre rassistische Morde in Tulsa: „Das Schweigen füllen“
       
       > Joe Biden hat als erster US-Präsident den Tatort besucht, wo 1921 ein
       > weißer Mob 300 Schwarze Menschen tötete. Aufklärung gibt es bis heute
       > nicht.
       
 (IMG) Bild: Zwei der Überlebenden: Hughes Van Ellis Sr. und Viola Fletcher können nicht vergessen
       
       NEW YORK taz | Einhundert Jahre nachdem weiße Bürger von Tulsa, Oklahoma,
       plündernd, brandschatzend und mordend durch den Schwarzen Bezirk der Stadt
       gezogen sind, war [1][Joe Biden am Dienstag der erste US-amerikanische
       Präsident], der den Tatort besucht hat.
       
       Er traf die drei letzten bekannten Überlebenden, die heute 101, 106 und 107
       Jahre alt sind und hielt eine nachdenkliche Rede, in der er sagte: „Nur mit
       der Wahrheit kann die Heilung kommen“, sowie: „Ich bin hier, um zu helfen,
       das Schweigen zu füllen“. Biden zog eine Linie von Tulsa [2][zu dem Sturm
       auf das Kapitol am 6. Januar] und zu den heutigen Versuchen, das
       [3][Wahlrecht einzuschränken]. Auch legte er eine Gedenkminute für die
       Opfer des Massakers ein. Über die Reparationszahlungen, die Angehörige seit
       Langem verlangen, will der US-Präsident nachdenken. Zusagen machte er
       nicht.
       
       Rund 300 Menschen fielen dem [4][weißen Terror am 31. Mai und 1. Juni 1921]
       zum Opfer. Tausende flohen aus der Stadt. Es war einer der folgenreichsten
       rassistischen Angriffe gegen Afroamerikaner in den USA. Unter den Toten
       waren Männer, Frauen, Kinder. Sie hatten im Bezirk Greenwood auf der
       nördlichen Seite der Eisenbahnlinie der strikt segregierten Stadt gelebt.
       
       Die meisten von ihnen wurden in Massengräbern verscharrt und sind bis heute
       weder identifiziert noch beigesetzt worden. 1.200 Häuser wurden zerstört.
       Die weißen Täter kamen mit brennenden Fackeln und Gewehren. Am Morgen des
       1. Juni wurden sie auch aus der Luft unterstützt. Flugzeuge warfen
       Brandsätze über Greenwood ab, wo Menschen in den Kellerräumen von Kirchen
       und Wohnhäusern Schutz gesucht hatten.
       
       ## Kein Prozess, späte Entschuldigungen
       
       Für den millionenfachen Sachschaden in Greenwood sind nie Entschädigungen
       gezahlt worden. Die Versicherungen lehnten es ab, die örtlichen
       Würdenträger unternahmen nichts dagegen. Die von Weißen dominierten Medien
       vermieden es jahrzehntelang, über das Massaker zu berichten. Als einige
       wenige Überlebende versuchten, ihre Häuser wieder aufzubauen, weigerten
       sich weiße Geschäftsleute im Ort, ihnen Baumaterial zu verkaufen.
       
       Es war das schwerste Verbrechen in der Geschichte der Stadt mit heute
       400.000 Einwohnern. Aber kein Staatsanwalt hat sich damit befasst. Keiner
       der Täter ist je vor Gericht gekommen.
       
       Die ersten halbherzigen Entschuldigungen von örtlichen Würdenträgern kamen
       erst in den späten 1990er Jahren. Es dauerte bis 2013, bis sich ein
       Polizeichef von Tulsa dafür entschuldigte, die Menschen nicht geschützt zu
       haben.
       
       Die Gewalt in Tulsa war kein Einzelfall. Auch an zahlreichen anderen Orten
       der USA wütete der weiße Pöbel. Zwischen dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr
       1865 und 1940 zählen die Historiker Dutzende von rassistischen Massakern in
       den USA.
       
       ## Geschichte der Gewalt
       
       1921 liegt die Befreiung der Schwarzen US-Bürger nach dem Ende des
       Bürgerkriegs längst in ferner Vergangenheit. Die Bürgerrechte von Schwarzen
       US-Amerikanern sind quer durch das Land zurückgedrängt worden. Stattdessen
       breiten sich Lynchmorde und Jim-Crow-Gesetze aus, die die „Rassentrennung“
       regeln. Vielerorts entstehen „patriotische“ Vereinigungen, die das [5][Erbe
       der Konföderierten] ehren und Denkmäler für jene aufstellen, die im
       Bürgerkrieg für die Beibehaltung der Sklaverei gekämpft haben.
       
       1915 gründet sich auch der rassistische Geheimbund „Ku-Klux-Klan“ erneut.
       Als heimkehrende Schwarze Soldaten am Ende des Ersten Weltkriegs zu Hause
       gleiche Rechte einfordern, reagieren weiße Rassisten wütend.
       
       „Wir haben alles verloren. Unsere Häuser, Kirchen, Zeitungen und Theater“,
       hat Viola Fletcher im Mai dieses Jahres vor dem Unterausschuss für
       Bürgerrechte des US-Repräsentantenhauses über das Massaker gesagt. „Mein
       Land mag das vergessen. Aber ich kann es nicht. Meine Nachfahren können es
       auch nicht“. Im Alter von 107 hört der US-Kongress sie zum ersten Mal über
       das traumatische Erlebnis an, das ihr Leben verändert hat.
       
       Vor den Abgeordneten sagt die Frau, dass sie immer noch die Bilder von den
       Schüssen auf Schwarze Männer, von den Leichen auf der Straße sieht.
       Fletchers Familie hat ihr Einkommen verloren. Das Mädchen musste nach vier
       Jahren die Schule verlassen und sich als Hausangestellte durchschlagen.
       Noch heute lebt Fletcher in Armut. Die Gruppenklage von 125 Überlebenden,
       die Reparationen verlangen, der sie sich 2003 angeschlossen hat, ist
       gescheitert. Die Gerichte – bis hin zum Obersten Gericht – haben es
       abgelehnt, sich damit zu befassen. Am Dienstag war Fletcher eine der drei
       Überlebenden, die mit dem US-Präsidenten in Tulsa gesprochen haben.
       
       ## Black Lives Matter fordert Aufklärung
       
       Direkt nach dem Massaker haben Überlebende Augenzeugenberichte
       veröffentlicht. Aber in Tulsa sorgten örtliche Behörden und Medien dafür,
       das Verbrechen zu vertuschen. Reporter von außerhalb durften nicht in die
       Stadt. Die späte Aufklärung hat erst in den 1990er Jahren begonnen.
       
       Nachdem im vergangenen Jahr ein Polizist in Minnesota den unbewaffneten
       Schwarzen [6][George Floyd ermordet hat], verstärken die Proteste die
       Forderung nach Aufklärung. Zum 100. Jahrestag soll das Massaker auch im
       Geschichtsunterricht an den Schulen Oklahomas behandelt werden. Allerdings
       dürfen die Lehrer dabei nicht auf die Rolle von Rassismus in der
       US-Geschichte eingehen. Anfang Mai hat der republikanische Gouverneur Kevin
       Stitt ein Gesetz unterschrieben, das die „Critical Race Theorie“ aus den
       Schulen Oklahomas verbannt.
       
       In diesem Sommer eröffnet die Stadt Tulsa das Museum „Greenwood Rising“,
       das sich mit dem Massaker befasst. Bei Schwarzen Aktivisten ist das
       30-Millionen-Dollar-Projekt umstritten. Anwalt Amario Solomon-Simmons, der
       Kläger vertritt, die Reparationen verlangen, nennt es eine „Schönfärberei“,
       die vor allem weißen Geschäftsleuten zugutekommen werde.
       
       US-Präsident Biden spricht in Tulsa erneut von dem institutionellen
       Rassismus und sagt, dass er unter anderem mit Förderungen für Schwarze
       Hauseigentümer gegen die anhaltende Segregation vorgehen will. Als er seine
       Rede in Tulsa beendet, stimmten einige Anwesende den in der Bürgerbewegung
       beliebten Song „Ain't gonna let nobody turn me around“ an.
       
       In den USA hat sich der ökonomische Graben zwischen weißen und Schwarzen
       Familien [7][in der Pandemie] noch vertieft. Heute stellen Afroamerikaner
       zwölf Prozent der Bevölkerung, aber verfügen nur über zwei Prozent des
       Wohlstands. Am Abend von Bidens Auftritt in Tulsa sagt der Schwarze Ökonom
       William Darity von der Duke Universität in einem Interview mit dem
       TV-Sender PBS, dass die Förderung von Hauseigentum ein richtiger Schritt
       ist. Aber dass sehr viel mehr nötig ist, um das Unrecht von Jahrhunderten
       auszugleichen.
       
       2 Jun 2021
       
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