# taz.de -- Buch „Die offene Gesellschaft“: Wohin vom Neoliberalismus aus?
       
       > Der Soziologe Wolfgang Engler streift in seinem neuen Buch durch „Die
       > offene Gesellschaft und ihre Grenzen“.
       
 (IMG) Bild: Montagsdemo im Oktober 1989, Demonstranten der Demokratiebewegung auf dem Leipziger Ring
       
       Es begann im November 1989. Ohne die epochale Zäsur durch den Zusammenbruch
       der DDR und des osteuropäischen Staatssozialismus wäre dieses Buch wohl nie
       geschrieben worden. „Es war die beste Zeit“, erinnert sich [1][Wolfgang
       Engler]. „Der Ausnahmezustand dauerte einige Wochen, wenige Monate, dann
       ging der ‚Wahnsinn‘ zu Ende.“
       
       So war es, 1989/90. Im umstürzlerischen Vorfeld dazu: „Courage, Neugier,
       Selbstermächtigung, jenseits von Selbstvergottung.“ Bevor die neue, die
       offene Gesellschaft „freiheitsheroisch“ als „abstrakte Gesellschaft“ über
       die geschlossene hereinbrach und bald deutlich machte, dass sie sich auch
       wieder schließen konnte.
       
       „Diese Last, dieses Unbehagen, diese inneren Spannungen sind eine Folge des
       Zusammenbruchs der geschlossenen Gesellschaft.“ Der Philosoph Karl R.
       Popper hatte in seiner berühmten Streitschrift „Die offene Gesellschaft und
       ihre Feinde“ 1945 ihre Verfasstheit als widersprüchlichen „Zustand“ zu
       universalisieren versucht.
       
       Doch wie sah es, wie sieht es heute mit dem „Prozess“ einer soziologisch
       differenzierten Analyse aus? Der Rationalist Popper „kennt nur die
       Wissenschaft im Singular“, hatte der Zivilisationstheoretiker Norbert Elias
       1985 in „Das Credo eines Metaphysikers“ zu Recht festgestellt – was gewiss
       auch für Poppers Gesellschaftstheorie gilt. Offen oder geschlossen? Oder
       auch offen und geschlossen? Im letzteren Fall – eine Konjunktion, der sich
       der „offene“ Soziologe, zumindest hypothetisch, nicht entziehen kann.
       
       Englers Buch stellt sich diesem komplexen Problemgeflecht: „Geschlossen,
       offen, abstrakt, drei gesellschaftliche Aggregatzustände mit bald
       mählichen, bald abrupten Übergängen dieser Formen ineinander.“ Doch mit dem
       „Versuch, unsere soziale Welt in diesen Begriffen zu denken, stößt die
       immanente Kritik an ihre Grenzen. Der Gedankengang löst sich von diesem
       Modell und wendet sich seinem finalen Thema zu: Wohin vom Neoliberalismus
       aus?“
       
       Zur Beantwortung dieser Frage ist sicher am Unterschied zwischen
       klassischem Liberalismus und Neoliberalismus festzuhalten: „Der klassische
       Liberalismus von Wilhelm von Humboldt bis John Stuart Mill setzte Staat und
       Politik voraus, trachtete danach, deren Einfluss zu begrenzen. Im
       Neoliberalismus von Friedrich Hayek, Milton Friedman und Wilhelm Röpke sind
       Staat und Politik das zum Markt ‚Hinzukommende‘ und werden von diesem
       überhaupt begründet.“
       
       1989. Die Abkoppelung von Real- und Finanzwirtschaft erfolgte nun rasant
       als Begleiterscheinung des Modernisierungs- und Innovationsschubs in der
       dritten industriellen Revolution. Das daraus folgende neoliberale Modell,
       während der Pinochet-Diktatur in Chile bereits 1973 getestet, 1979 von
       Margaret Thatcher (einer der besten Freundinnen des chilenischen Diktators)
       in Großbritannien und dann besonders im Commonwealth zur „Vitalisierung“
       offener Märkte implementiert, wurde auch „Kontinentaleuropa“ als obendrein
       „beste Sozialpolitik“ zur Nachahmung empfohlen. Die neoliberale
       Internationale sollte allerdings erst unter Labour und der Sozialdemokratie
       vollends gelingen – wie 1999 das Positionspapier von Tony Blair und Gerhard
       Schröder zeigte –, die unverblichen die Signatur der eisernen Lady mittrug.
       
       ## Kluft zwischen Neoliberalismus und dem Liberalitätsprinzip
       
       Doch was nach Engler zehn Jahre früher bereits epochal als Konflikt
       eintrat, war die Kluft zwischen Neoliberalismus und dem
       Liberalitätsprinzip. „Geistige Offenheit, unbefangener Austausch, die
       Bereitschaft, einander zuzuhören, dem Gegenüber redliche Absichten zu
       attestieren. Wenn das nicht geht, geht nichts mehr, dann schließt sich der
       Raum der Liberalität, den wir heute dringend nötig haben.“
       
       In die Blockaden der offenen Gesellschaft eingebettet, entpuppte sich die
       offene als abstrakte Gesellschaft, deren Deblockierung es eines
       „Sozialprojekts“ bedürfe. Setze man sie stereotypisch als „Zustand“ voraus,
       dann geraten die zivilisatorischen und mithin dezivilisatorischen Prozesse,
       die ihr im kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess
       innewohnen, aus dem Blick.
       
       Als 1989 der „Himmel“ sich öffnete, geriet eben „dessen Unterbau“ aus dem
       Blick. Die „offene Gesellschaft“ kam geteilt daher – als „verhimmelte
       bürgerliche Gesellschaft, die sie voraussetzt und auf der sie aufbaut“. Sie
       halbiert als Öffentlichkeit im Himmel zu belassen, sei einfach „Faselei“,
       denn „der Streit auf ihrem Boden kreist um dieses ‚Bürgersein‘, um seine
       Dehnbarkeit, sein Fassungsvermögen. Wer gehört dazu, mit welchen Rechten?“
       
       Englers Diagnose der offenen Gesellschaft verläuft über mehrere
       Diskurslinien: Der Bezug auf Norbert Elias zum Beispiel illustriert die
       „Gesellschaft der Individuen“ in den „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“
       bezüglich der institutionellen Individualisierung, die nicht
       Individualismus heißen müsse.
       
       ## Keine Illusionen
       
       „Nicht weniger, mehr Individualisierung, und zwar für alle, ist vonnöten,
       um der offenen Gesellschaft wieder mehr Zulauf zu verschaffen.“ Dennoch,
       schreibt er an anderer Stelle: „Die Wurzeln des neoliberalen Regimes
       reichen tief in die Gesellschaft der Individuen, in deren Habitus hinein,
       man hege diesbezüglich keine Illusionen.“
       
       Das gehört auch zum Kontext, der eben gesellschaftlich rekonstruiert
       werden muss. Die Darlegung habitueller Praktiken, von gesellschaftlichen
       Mobilitätsräumen (oben, unten, vorn) bis in die Kapillaren der deutschen
       Gesellschaft seit 1989 hinein – da setzt makro- und mikrosoziologisch der
       fruchtbare Bezug zu Pierre Bourdieu ein.
       
       Englers Nachzeichnungen des neoliberalen Dispositivs sind dabei keineswegs
       „ökonomistisch“ oder reihen sich ins „große Neoliberalismus-Bashing“ ein,
       so der Vorwurf von Alexander Gallus in seiner FAZ-Rezension vom 19. Februar
       2021. Auch wenn Engler ideologiekritisch (genauer: wissenssoziologisch) die
       Frage nach der „Entfremdung“ aus den „neoliberalen Denkfabriken“ stark
       bewegt – deren Opfer gerade die Individuen werden können.
       
       ## Walter Benjamin und der Schachspielautomat
       
       Der Sache nach orientiert, liefert hier Engler ein Exempel, das ihrer
       Sinnbildhaftigkeit wegen zur Zusammenfassung neoliberaler Praktiken kaum
       besser hätte gewählt werden können: „Im ersten Teil seiner Thesen ‚Über den
       Begriff der Geschichte‘ erzählt Walter Benjamin von einem Automaten, der
       jeden Zug eines beliebigen Schachspielers so gekontert hätte, dass er die
       Partie gewann. Dieses Wunder bewirkte ein Zwerg im Inneren des Apparats,
       ein Meister dieses Spiels. Unsichtbare Schnüre führen von ihm zur Hand
       einer Puppe, die vor dem Schachbrett saß und die Züge ausführte. ‚Zu dieser
       Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen‘,
       fährt Benjamin fort. 'Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen
       Materialismus‘ nennt.“
       
       Zum „Gewinnen“ bedarf es allerdings mehr als eines imaginierten Prozesses
       ohne Subjekt. Englers Ansatz greift auf die eigene marxistische Tradition
       zurück, sofern zur Verwirklichung einer offenen Gesellschaft die soziale
       Frage, die ungelöst immer eine Klassenfrage ist, ins zivilgesellschaftliche
       Liberalitätsprinzip integriert werden müsse.
       
       Und hier schwingt auch Antonio Gramscis Konzept der società civile mit:
       „Um ihr Bestandsrisiko in Schranken zu halten, müssen offene Gesellschaften
       den Irrweg abstrakter Gesellschaften meiden und der unumstößlichen Tatsache
       Rechnung tragen, dass das Arbeitsvermögen keine Ware wie alle anderen Waren
       ist. Sie müssen den Unmut, den Zorn der Volksklassen durch deren Aufnahme,
       deren Einbeziehung in die bürgerliche Ordnung von Eigentum und
       (auskömmlicher) Arbeit beschwichtigen, indem sie sich nach unten öffnen.
       Dadurch allein beugen sie ihrer Selbstzerstörung vor.“
       
       „30 Jahre danach“, heißt es im vorletzten Kapitel. Noch einmal November,
       2019. „Wir waren das Volk.“ Das „Volk gibt es wieder“. Doch „Heiterkeit und
       Zuversicht gingen verloren“. Es komme jetzt grimmig daher. Verbissen.
       Altdeutsch.
       
       25 Jun 2021
       
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