# taz.de -- Kinostart von Chloé Zhaos „Nomadland“: Einsamkeit muss man ertragen lernen
       
       > Chloé Zhaos Film „Nomadland“ mit Frances McDormand in der Hauptrolle war
       > der große Oscar-Gewinner des Jahres. Jetzt kommt er endlich ins Kino.
       
 (IMG) Bild: Uneitel, praktisch, unsentimental: Fern (Frances McDormand) in „Nomadland
       
       Eigentlich hätte man sie doch als die raren „Feste in Zeiten von Corona“ im
       Gedächtnis behalten müssen, die wenigen weltöffentlichen Ereignisse, die
       „trotz alledem“ stattfanden. In Wahrheit hat man sie längst vergessen, all
       die Online-, Digital- oder „Hybrid“-Festivals und Preisverleihungen.
       
       Niemand erinnert sich an die diesjährige Oscarverleihung, oder? Es fiel
       daher kaum auf, dass es einen großen Gewinner dieser „Awards Season“ gab,
       [1][einen Film, der überall Trophäen abräumte und dabei Rekorde markierte –
       Chloé Zhaos „Nomadland“].
       
       Schon bei seiner [2][Premiere auf dem Festival in Venedig im vergangenen
       Herbst erhielt er den Goldenen Löwen], kurz darauf den begehrten „People’s
       Choice Award“ in Toronto, und so ging es weiter, von Festival zu Festival,
       von Kritikerpreis zu Kritikerpreis, von nationalen Filmpreisen wie dem
       Bafta bis zu den Golden Globes und den Oscars. Immer wieder wurde
       „Nomadland“ zum besten Film, Chloé Zhao zur besten Regisseurin und/oder
       Frances McDormand als beste Hauptdarstellerin gewählt. Und überall wurde
       die Entscheidung mit größtem Konsens begrüßt.
       
       Nun endlich, mit der bundesweiten Kinoöffnung am 1. Juli, können auch
       Zuschauer hierzulande nachvollziehen, welche geradezu bizarre Schönheit das
       hat, dass ein so beiläufiger, stiller Film wie „Nomadland“ eine solche
       Menge an glamourösen Auszeichnungen auf sich vereinen konnte.
       
       Fast wünscht man sich die Parallelwelt herbei, in der es die Bilder dazu
       gegeben hätte: Zhao und McDormand, zwei der seltenen weiblichen
       Dress-Code-Verweigerinnen, die sich weder in High Heels noch in „sexy“
       Abendkleider zwängen lassen und sichtlich auch nicht gerne lange beim
       Friseur sitzen, flankiert von lauter Tuxedo- und
       Haute-Couture-Träger*innen, das wäre was gewesen.
       
       ## Eine moderne Tagelöhnerin
       
       Frances McDormand spielt in „Nomadland“ einmal mehr eine Frau ganz nach
       ihrem Format, soll heißen: uneitel, praktisch, unsentimental. Ihre Figur
       Fern ist eine verwitwete Frau, die ihr Haus aufgibt, um fortan in einem Van
       als eine Art moderne Tagelöhnerin durch die USA zu ziehen. Es ist weniger
       eine Wahl denn ein Mangel an anderen Mitteln und Möglichkeiten. An ihrem
       Wohnort, der Kleinstadt Empire im Staat Nevada, stellte
       Rigipsplattenhersteller US Gypsum im Jahr 2011 nach 88 Jahren die
       Produktion ein, konstatiert zu Filmbeginn eine Schrifttafel.
       
       In den USA weiß man, was das bedeutet, wenn der zentrale Arbeitgeber eines
       Ortes zu existieren aufhört: nicht nur dass keine andere Arbeit zu finden
       ist, es verschwindet auch das im Hauseigentum angesparte Vermögen, weil
       Menschen wegziehen und keiner dazukommt, dem man das Haus noch verkaufen
       könnte. Weh dem, dessen Rente zu niedrig ist, um noch davon zu leben.
       
       Fern also riecht noch einmal sehnsüchtig an einem hinterlassenen
       Kleidungsstück ihres Mannes, gibt die Sachen in „Storage“ und fährt los.
       Ihre erste Anlaufstelle ist ein Amazon-Lager, wo fürs Weihnachtsgeschäft
       Zusatzkräfte beschäftigt werden. Dass Fern beim Einchecken auf dem
       Trailer-Park in der Nähe auf ein eigenes Amazon-Territorium verwiesen wird,
       zeigt schon an, dass ihr Beispiel kein Einzelschicksal ist.
       
       ## Eine bunte Truppe
       
       Die bunte Truppe, die man in den folgenden Filmszenen bei ihrer Einweisung
       am Ort sieht, ist auf andere Weise „bunt“, als man es gewöhnt ist: viele
       Alte sind darunter, Menschen, denen man die Marginalisierung ansieht und
       die man sonst im Grunde ausschließt, wenn von „arbeitender Bevölkerung“ die
       Rede ist.
       
       Hier formen sie eine provisorische Gemeinschaft, die in typisch
       amerikanischer Lässig-Höflichkeit neue Rituale ausbildet. Bald sieht man
       Fern zu allen Seiten hin grüßend zur Schicht laufen oder stillvergnügt im
       Waschsalon mit einer Kollegin zusammen Puzzle legen. Das neue Jahr aber
       begeht sie allein in ihrem Van, wobei der festlich-exzentrische Reif in
       ihrem Haar ihre Einsamkeit herausstreicht.
       
       Spätestens da beginnt ein emotionaler Funken überzuspringen: Dieses
       Nomadenleben mag seine romantischen Seiten haben, mag trotz aller
       Armutsbegrenzungen auch befreiende Züge tragen, der Preis ist dennoch ein
       Grad von Vereinzelung, den zu ertragen man wohl lernen muss.
       
       ## Der amerikanische Westen
       
       Die Vorlage für „Nomadland“ ist keine Fiktion, sondern ein Reportagebuch
       der Autorin Jessica Bruder, die zum Phänomen der neuen, vorwiegend alten
       Tagelöhner in den USA recherchiert hat. In ihrer Verfilmung setzt Zhao auf
       die Beteiligung von Betroffenen – in vielen Szenen ist Frances McDormand
       der einzige „Profi“ vor der Kamera – und zugleich auf eine Kameraarbeit,
       die mit cineastischem Flair Landschaft und Umgebung aufnimmt.
       
       In diesen Aufnahmen des amerikanischen Westens mit seiner einmaligen
       Kombination von Wüste, autofreien zweispurigen Straßen und Bergen (gedreht
       wurde vor allem in Süddakota, in Nebraska und Nevada) gelingt „Nomadland“
       der Anschluss sowohl an den klassischen Western als auch das typische
       Roadmovie. Es ist diese Genre-Einbindung, die dem trockenen Stoff
       Atmosphäre einhaucht.
       
       Wenn Fern von anderen „Nomaden“ belehrt wird, sei es über die „Zehn Gebote
       des heimlichen Parkens“, darüber, wie man „mit der eigenen Scheiße“ umgeht
       oder über den „Weg des Kapitals“, dem man gezwungen ist zu folgen – nie
       wird der Film pädagogisch oder predigerhaft. In eingestreuten
       „Testimonials“ gibt Zhao den echten Nomaden Gelegenheit, ihre Motivationen
       zu schildern, und zeigt so deren Vielfältigkeit auf, die ambivalent
       zwischen Freiwilligkeit und Not hin und her pendelt.
       
       ## In der Putzkolonne
       
       Die schönen Bilder beschönigen nicht, sie emotionalisieren: Fern, wie ihr
       Blick sich den kleinen Dingen zuwendet, dem bemerkenswert ausgehöhlten
       Kieselstein, der kleinen Muschel im Wüstensand, dem Teller, der ein
       einsames Erbstück des Vaters ist – obwohl man im Lauf des Films wenig über
       sie erfährt, fühlt man immer mehr mit dieser Frau mit. Zhao zeigt sie als
       Teil der verschiedensten Arbeitskollektive, in der Putzkolonne eines
       Nationalparks, in einem Fast-Food-Restaurant, als Straßenarbeiterin.
       
       Fern findet leicht Anschluss, bleibt aber einsam. Ein Handlungsbogen deutet
       eine Romanze zwischen ihr und dem von David Strathairn gespielten Dave an,
       der sie schließlich einlädt, bei ihm und der Familie seines Sohns ihre
       Zelte aufzuschlagen. Die Szene, in der die Kamera Fern zeigt, wie sie im
       frühen Morgengrauen allein dort im Esszimmer sitzt und dabei die Fremdheit
       spürbar wird, die diese Frau im „Zuhause der Anderen“ empfindet, gehört zu
       denen, die man als Zuschauer nicht vergisst.
       
       Dass sich 2020/21 ein willentlich auf Bescheidenheit zurückgezogenes
       Filmbusiness einen betontermaßen bescheidenen Film wie „Nomadland“ zum
       Hauptpreisträger aussuchte, kann kaum verwundern. Kurz vor der
       Oscarverleihung kam im Übrigen die Kontroverse auf, dass Zhao den
       Amazon-Konzern in allzu gutem Licht erscheinen lasse und nicht genügend die
       brutalen Praktiken des Internethandels ausstelle.
       
       ## Film unserer Zeit
       
       Es blieb der einzige Einspruch gegen den Film, bald überdeckt durch die
       identitätspolitischen „Vorzüge“, die auch für „Nomadland“ sprechen.
       Schließlich wurde mit Chloé Zhao endlich eine zweite Frau als Regisseurin
       bei den Oscars ausgezeichnet, die durch ihre chinesische Herkunft – sie ist
       in Peking geboren – zudem der Forderung nach mehr Diversity entgegenkommt.
       Aber letztlich wird es das im Film so treffend auf den Punkt gebrachte
       generelle Gefühl des „Sich-nicht-mehr-Zuhause-Fühlens“ sein, das
       „Nomadland“ als „den“ Film unserer Zeit ausweist.
       
       25 Jun 2021
       
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