# taz.de -- Grüne Fraktionschefinnen über die Wahl: „Verteidigen, was wir erreicht haben“
       
       > Im Wahlkampf mit unbezahlbaren Forderungen punkten zu wollen gehe nicht
       > an, sagen Silke Gebel und Antje Kapek. Sie kritisieren damit indirekt SPD
       > und Linke.
       
 (IMG) Bild: „Das Ergebnis wird ein massiver Umbau dieser Stadt sein“: Radfahrerin in Berlin​
       
       taz: Frau Kapek, Frau Gebel, die Initiative Deutsche Wohnen und Co.
       enteignen hat [1][mehr als 300.000 Unterschriften] für einen Volksentscheid
       gesammelt. Hat Sie das überrascht? 
       
       Antje Kapek: Absolut nicht. Zu diesem respektablen Ergebnis kann man nur
       gratulieren.
       
       Warum hat Sie das nicht überrascht? 
       
       AK: Die Wohnungsfrage ist schon seit Jahren das Thema schlechthin. Nachdem
       das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel gekippt hat, gibt es die
       Atempause für Mieter*innen nicht mehr. Insofern ist verständlich, dass
       die Menschen den Wunsch nach einem Handlungsinstrument gegen steigende
       Mieten haben. Wir empfinden das Ergebnis auch als Rückenwind für unseren
       Kampf gegen eine mieterfeindliche Geschäftspraxis.
       
       Halten Sie es für möglich, dass beim Volksentscheid parallel zur
       Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl am 26. September eine Mehrheit der
       Berliner*innen für die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne
       stimmt? 
       
       Silke Gebel: Der 26. September wird entscheidend sein, ob wir eine soziale
       Mieten- und nachhaltige Wohnungsbaupolitik bekommen. Der Zuspruch für den
       Volksentscheid zeigt doch, dass die Berliner*innen bezahlbare Wohnungen
       wollen. Es ist unsere Aufgabe als Politiker*innen, dieses Grundrecht wieder
       zu gewährleisten.
       
       Wie soll das aussehen? 
       
       SG: Die Karlsruher [2][Entscheidung zum Mietendeckel] hat gezeigt: Nur mit
       Hilfe des Bundes kommen wir hier weiter. In der nächsten Bundesregierung
       wollen wir deshalb eine Öffnungsklausel für regionale Mietendeckel
       durchsetzen. Auch darüber wird im September abgestimmt. In Berlin werden
       wir mit einer Regierenden Bürgermeisterin Bettina Jarasch weitere Schritte
       gehen: für lebendige Kieze mit bezahlbaren Wohnungs- und Gewerbemieten, für
       nachhaltigen und sozialen Wohnungsbau und strategischen Ankauf zum Ziel der
       Gemeinwohlorientierung auf dem Wohnungsmarkt.
       
       Die SPD hat versucht, die Enteignungsdebatte durch einen Deal mit Vonovia
       zu bremsen: 20.000 Wohnungen will der Immobilienkonzern dem Land verkaufen,
       für mindestens 2,1 Milliarden Euro. Hat Sie [3][dieser Deal, eingefädelt
       von Michael Müller und dem Finanzsenator], überrascht? 
       
       AK: Wir haben als Koalition in der Wohnungspolitik einen Dreiklang aus
       Bauen, Kaufen und Preisregulierung vereinbart. Aber einen so umfangreichen
       Deal ohne vorherige Absprachen mit den Koalitionspartnern zu verkünden, hat
       uns doch sehr überrascht. Es kann nicht sein, dass wir Wohnungen für
       Wuchersummen zurückkaufen, die Rot-Rot in den 2000er Jahren fast verschenkt
       hat.
       
       Es geht um mindestens 2,1 Milliarden Euro. Was bedeutet das für die nächste
       Koalition? 
       
       SG: Das Geld wird an anderer Stelle fehlen. Wir werden sehr genau
       hinschauen, dass es zum Wohle der Berliner*innen zum Einsatz kommt und
       nicht als Sahnekirsche auf den steuerfreien Deal von Vonovia und Deutsche
       Wohnen.
       
       AK: Gerade für die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ist das eine
       Bürde; vielleicht müssen sie sich verschulden. Letztlich könnte der Deal
       bedeuten, dass das bezirkliche Vorkaufsrecht nur noch eingeschränkt
       eingesetzt werden kann, oder dass er auf Kosten der energetischen
       Gebäudesanierung geht. Beides darf nicht passieren.
       
       Rot-Rot-Grün konnte bisher mit vollen Kassen regieren. Das dürfte in der
       nächsten Legislatur anders werden. Welche Einschränkungen befürchten Sie? 
       
       SG: Wir müssen vor allem das erhalten, was wir in dieser Legislatur
       erreicht haben: etwa in der Mobilitätswende und mit der Grünbauoffensive
       für mehr Bäume, Parks und Stadtnatur. Wie essenziell eine grüne,
       lebenswerte Stadt ist, hat die Pandemie noch mal gezeigt. Deswegen
       kritisieren wir, wenn viele im Wahlkampf nun neue Versprechungen machen,
       die nicht finanziell untersetzt sind. Es darf keine Gießkannenpolitik
       geben; wir müssen gezielt jene unterstützen, die Unterstützung brauchen.
       
       Wen meinen Sie genau? 
       
       SG: Ein Beispiel: Berlin ist die Stadt, in der mit die meisten armen
       Kinder leben. Sie müssen wir gezielt fördern; das betrifft auch den
       Bildungsbereich. Hier hat die Coronazeit bestehende Ungleichheiten noch
       verschärft.
       
       Der Finanzsenator hat am Dienstag [4][den Haushaltsentwurf 2022/23
       vorgestellt]; das Abgeordnetenhaus muss ihn beraten und verabschieden. Wie
       bewerten Sie den Entwurf? 
       
       AK: Der Senat hat eine recht steile Ausgabenkurve beschlossen; gleichzeitig
       haben wir wegen Corona weniger Einnahmen. Da werden wir im Parlament drüber
       reden müssen. Das bedeutet eventuell auch, dass man in Bereichen mit hohen
       Ausgaben das Geld effizienter einsetzen muss, etwa im Bildungsbereich mit
       seinen vielen Sonderprogrammen.
       
       Viel kritisiert wurde auch der Umgang mit den Bezirken. 
       
       AK: Zu Recht. Der Senat gönnt sich wieder einen ordentlichen Schluck aus
       der Pulle, bei den Bezirken sieht es nach Kürzungen aus. Es kann aber nicht
       sein, dass die einsparen müssen, was auf Senatsebene ausgegeben wird. Dazu
       kommt die Mammutaufgabe des Wiederaufbaus nach der hoffentlich bald
       beendeten Pandemie.
       
       Auf der einen Seite mehr Haushaltsdisziplin, auf der anderen mehr
       Investitionen – wie geht das zusammen? 
       
       SG: Der Staat muss handlungsfähig sein. Derzeit wächst wieder der Unmut,
       weil es kaum Termine auf den Bürgerämtern gibt. Auch fehlen
       Erzieher*innen in Kitas, Lehrer*innen und Personal auf
       Pflegestationen. Das müssen wir endlich hinbekommen, das ist die
       Pflichtaufgabe eines Staates.
       
       Ein Lieblingsprojekt der Grünen war das Mobilitätsgesetz, dessen erster
       Teil – das Radgesetz – heute vor genau drei Jahren verabschiedet wurde.
       Vorbereitet worden war es von der Radentscheid-Initiative, die nun
       [5][immer wieder kritisiert], dass das Gesetz nur schleppend oder sogar
       fehlerhaft umgesetzt wird. 
       
       AK: 50 Jahre lang wurde in Berlin Verkehrspolitik für eine autogerechte
       Stadt gemacht. Es fehlte an Geld, an Personal, den richtigen Vorschriften.
       Wir haben viel erreicht, sind aber nach wie vor dabei, vorhandene
       Strukturen aufzubrechen, um zu schnellen, effizienten
       Eingriffsmöglichkeiten zu kommen. Mit dem Mobilitätsgesetz haben wir die
       Verkehrswende eingeleitet – dieses Rad wird keine Regierung mehr
       zurückdrehen können.
       
       Aber braucht das so lange? 
       
       AK: Die Grünen sind am ungeduldigsten bei der Frage, wann wir endlich die
       ganze Stadt umgebaut haben. Natürlich wünschen wir uns das an der einen
       oder anderen Stelle noch schneller. Vielleicht kann ja das Land mehr
       Verantwortung etwa beim Bau von Radwegen übernehmen, um die Bezirke zu
       entlasten.
       
       Bei der Verkehrswende darf also nicht gespart werden? 
       
       AK: Ich glaube, das ist wirklich superwichtig, weil alle Menschen in der
       Stadt davon profitieren. Und wenn die Konservativen immer von mehr
       Sicherheit im öffentlichen Raum reden, müssten sie endlich über Verkehr
       reden. Dort gibt es die meisten Verletzten, die meisten Toten, auch die
       meiste Angst, weil man sich nicht sicher fühlt zu Fuß, auf dem Rad und im
       ÖPNV, weil der Straßenraum nicht klar aufgeteilt ist. Wir haben in dieser
       Legislatur angefangen, einen Fokus auf die Zahl der Verkehrstoten zu legen.
       Unser Ziel ist die Vision Zero.
       
       Bei den Verkehrstoten hat sich wenig getan: Die Zahl geht nicht signifikant
       zurück, von einer Vision Zero – also null Verkehrstoten – sind wir weit
       entfernt. 
       
       AK: Wir haben viel auf den Weg gebracht; keiner weiß, wie die Zahlen sonst
       wären. Vor allem sehen wir die Pläne, die die Verkehrsverwaltung bald
       umsetzen wird. Und das Ergebnis wird ein massiver Umbau dieser Stadt sein.
       
       Am 26. September wird in Berlin und im Bund gewählt. Auf Bundesebene sinken
       die Umfragewerte für die Grünen. Wie abhängig sind die Berliner Grünen vom
       Bundestrend? 
       
       SG: Wir stehen in Umfragen in Berlin seit drei Jahren auf Platz eins – und
       wir waren schon immer unabhängiger von den Bundeszahlen. Aber die
       Aufbruchstimmung, die es auch auf Bundesebene gibt, und das Vertrauen in
       eine mögliche Kanzlerinnenschaft von Annalena Baerbock sind schon enorm.
       Ich bin guter Dinge, dass sich diese Aufbruchstimmung am 26. September
       niederschlagen wird.
       
       Der SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey hat die Aberkennung ihres
       Doktortitels bisher [6][in Umfragen] nicht geschadet; Ihre
       Spitzenkandidatin Bettina Jarasch ist weitaus weniger bekannt. Wie wollen
       Sie das ändern? 
       
       SG: Bettina Jarasch ist viel in der Stadt unterwegs, in allen Bezirken,
       spricht mit Eltern, Initiativen, Unternehmen – und bekommt viel Zuspruch.
       Ich merke, dass die Art, wie sie zuhört, wie sie mit Menschen umgeht, gut
       ankommt. Sie überzeugt als Person und Politikerin und mit ihrem Programm.
       Es geht mehr um Inhalte und weniger um leere Versprechen.
       
       AK: Bekanntheit bringt nichts, wenn sie nicht mit Beliebtheit einhergeht.
       Bettina Jarasch hat ein Alleinstellungsmerkmal: Sie braucht keine
       Inszenierungen. Sie ist unglaublich natürlich. Und: Klaus Wowereit kannte
       anfangs kein Mensch; am Ende kannte ihn die ganze Welt.
       
       Im Bund läuft derzeit viel auf eine Koalition zwischen CDU und Grünen
       hinaus; in Berlin hoffen viele auf eine Fortsetzung von Rot-Rot-Grün.
       Würden Sie sich das für den Bund auch wünschen? 
       
       AK: Je nach Wahlausgang ist das eine zusätzliche Option. Aber wir haben
       gerade nicht den Eindruck, dass CDU und vor allem CSU ein Interesse an
       einer Regierungsbeteiligung der Grünen mit Annalena Baerbock haben. Wie
       hier ein Antiwahlkampf gegen sie geführt wird, finde ich unerhört und ohne
       Anstand.
       
       Wollen Sie die bisherige Berliner Koalition fortsetzen? 
       
       AK: Ja, wir wollen – unter grüner Führung – mit SPD und Linken
       weitermachen. Wir haben unumkehrbare Weichen gestellt, die Berlin
       nachhaltig verändern – etwa bei der Neuaufteilung der Verkehrsflächen, beim
       Klimaschutz, der Energiewende und einer sozialen Mietenpolitik, der
       Modernisierung des ÖPNV oder der Sanierung unserer Schulen. Wir wollen die
       Stadt weiter voranbringen.
       
       28 Jun 2021
       
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