# taz.de -- Antisemitismus in der Linken: Safe Spaces auch für Jüd:innen
       
       > Antirassistische und migrantische Bündnisse haben ein
       > Antisemitismus-Problem. Radikale Selbstkritik in Teilen der Linken ist
       > dringend nötig.
       
 (IMG) Bild: Pro-Palästina-Kundgebung in Berlin im September 2019
       
       Nach dem [1][rassistischen Anschlag in Hanau im Februar 2020] gründeten
       sich mehrere sogenannte Migrantifa Gruppen, aktivistische Bündnisse, in
       denen sich seither vor allem migrantische Personen politisch organisieren.
       Diese Gruppen bieten einen Raum zum Austausch und zur Emanzipation. Doch
       die politischen Ansichten der Mitglieder stimmen nicht immer überein. Das
       gilt insbesondere beim Thema Nahostkonflikt und dem Umgang mit
       Antisemitismus.
       
       Die Spaltung der Linken in dieser Thematik hat eine lange Geschichte. Bis
       1967 unterstützte die deutsche Linke die Gründung des jüdischen Staats
       mehrheitlich, hatte dabei oft die Beispiellosigkeit des erst zwei
       Jahrzehnte zurückliegenden Holocaust vor Augen. Nach dem Sechstagekrieg
       jedoch erfolgte ein ruckartiger Sinneswandel, man richtete sich von da an
       gegen den „zionistischen Besatzerstaat“ – als höchste Form des
       US-Imperialismus und Kolonialismus. In diesem Weltbild fanden auch
       Verschwörungsideologien von der „zionistischen Weltherrschaft“ und vom
       „jüdischen Finanzwesen“ in Form des regressiven Antikapitalismus Platz. Sie
       wirken bis heute in relevanten Teilen der Linken fort, während
       Antisemitismus sowie die permanente Bedrohung jüdischen Lebens kategorisch
       ausgeblendet und stattdessen eine bedingungslose Solidarität mit Palästina
       eingefordert wird.
       
       Israel ablehnende Positionen und antizionistische Sprechchöre und Plakate
       auf linken, antirassistischen Demonstrationen sind also kein neues
       Phänomen. Manche dieser Demonstrationen haben zunächst thematisch nichts
       mit dem Nahostkonflikt zu tun, andere sind explizit propalästinensisch.
       Auch in den vergangenen Monaten erweckte es den Anschein, als würden
       antirassistische Demonstrationen zunehmend von antiimperialistischen und
       antizionistischen Gruppierungen vereinnahmt, um unter dem Deckmantel des
       Antizionismus gegen Jüd:innen zu agitieren.
       
       Dabei greifen Aktivist:innen und Bündnisse auf eine effektive Sprache
       zurück, indem sie nach dem Vorbild der postkolonialen Theorie, zu deren
       Vordenkern unter anderem Edward Said und Frantz Fanon gehören, in der
       Debatte um Israel und die palästinensischen Gebiete mit Begriffen wie
       „Apartheid“, „Siedlerkolonialismus“ oder gar „Genozid an den
       Palästinenser:innen“ um sich werfen.
       
       Ereignisse wie die Intifada werden von Morden und Attentaten bereinigt und
       zu einer Aktion des legitimen palästinensischen Widerstands und
       revolutionärer „Abschüttelung der zionistischen Herrschaft“ stilisiert,
       wissenschaftlich elaborierte und anerkannte Begriffs- und
       Arbeitsdefinitionen werden abgelehnt, die Antisemitismusforschung der
       letzten Jahrzehnte wird ignoriert oder übergangen. [2][PFLP-Terroristen wie
       Leila Chaled], die Hitler aufgrund seiner Judenfeindschaft bewunderte und
       Israels Umgang mit den Palästinensern mit dem Holocaust verglich, werden in
       diesen Kreisen zu Widerstandsikonen verklärt.
       
       ## Vage Statements gegen Antisemitismus
       
       Besonders in den vergangenen Monaten war zu beobachten, dass sich im
       Vorfeld solcher Demonstrationen zwar viele migrantische Bündnisse vor allem
       auf ihren Onlinekanälen von Antisemitismus abgrenzen, meistens aber ohne
       dabei ins Detail zu gehen, was sie unter diesem verstehen. Es wird stets
       betont, dass in ihren Reihen auch Jüd:innen aktiv sind – sie deshalb
       nicht antisemitisch sein könnten. Die Frage, wie und weshalb eine jüdische
       Identität antisemitische Haltungen verunmöglichen soll, wird gar nicht erst
       gestellt.
       
       „Die Zusammenarbeit mit jüdischen, jedoch explizit antizionistischen
       Gruppen ist eine Imprägnierungsstrategie, um sich gegen Kritik im Vorhinein
       zu immunisieren“, sagt Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des
       Landes Berlin. Häufig offenbare sich ein sehr naives, verkürztes oder
       falsches Verständnis von Antisemitismus im antirassistischen Bereich.
       Während offener, völkischer Antisemitismus der extremen Rechten erkannt
       werde, gebe es nur wenig Bewusstsein für neue Formen des Antisemitismus,
       der sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt habe, sich auf anderen, die
       Schuldabwehr beinhaltenden Wegen artikuliert oder im arabisch-muslimischen
       Kontext vorhanden ist, sagt Salzborn.
       
       Die jüdischen Gruppen in vielen migrantischen Bündnissen sind explizit
       antizionistische Jüd:innen, die als Kronzeugen fungieren, um die Kritik an
       Antisemitismus abzuweisen. „Diese Formen des modernen Antisemitismus werden
       ausgeblendet, entweder naiverweise, weil man sich nur prekär dafür
       interessiert, was Antisemitismus ist, oder vorsätzlich, weil man in dieser
       Frage israelbezogene, antisemitische Positionen formulieren, aber nicht als
       Antisemit:in bezeichnet werden will“, so Salzborn.
       
       Da im antirassistischen Kontext Zionismus oftmals eine Gleichsetzung mit
       Rassismus erfährt, Antisemitismus als Unterform des Rassismus verstanden
       und Antizionismus somit zu einem unbedingten, antirassistischen Standpunkt
       erklärt wird, erfolgt eine manichäische Aufspaltung in „gute“, also
       antizionistische, und „schlechte“ Juden. Jüd:innen wird nach einigen
       Spielarten reduktionistischer, postkolonialer Theorie, ein sogenanntes
       Jewish privilege und das Attribut weiß attestiert.
       
       Israel wird dabei als rassistischer Kolonialstaat dämonisiert und
       fungiert nicht selten als Projektionsfläche für alles Böse, sagt Jakob
       Baier, Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher. „Hier treten
       antizionistisch-antisemitische Ressentiments zum Vorschein, die den
       politischen Aktivismus mancher antirassistischer Gruppen prägen“, sagt er.
       Die hochkomplexe Konfliktkonstellation werde häufig auf einen vermeintlich
       universalen Kampf von Unterdrückern vs. Unterdrückte reduziert. Gerade für
       junge Menschen, so Baier, kann das in einer bestimmten Phase ihrer
       Politisierung ein verführerisches Weltbild sein, „wonach sich im
       Staatswesen Israels angeblich die gesamte Ungerechtigkeit postkolonialer
       Herrschaftsverhältnisse konzentriert“.
       
       Diese binäre Aufspaltung wird zum Grundmuster der gesamten
       Menschheitsgeschichte erklärt und somit jede:r, der die Gegnerschaft zu
       Israel nicht bedingungslos unterstützt, als rassistisch oder „nicht
       wahrhaftig links“ markiert und die Definitionsmacht darüber, wie eine linke
       Praxis auszusehen hat, vereinnahmt. Inhaltlicher Widerspruch in dieser
       komplexen Debatte und differenzierte Kritik werden energisch abgewehrt.
       Sowohl Migrantifa Berlin als auch Palästina Spricht lehnten eine
       Interviewanfrage der taz zu diesem Thema ab.
       
       ## Antisemitismus bei Black Lives Matter
       
       Levi Salomon, Vorsitzender des Jüdischen Forums für Demokratie, kritisiert
       die [3][fehlende Debattenkultur]. Personen, die sich nicht dezidiert
       antiisraelisch positionieren oder Positionen, die an der widerspruchsfreien
       Darstellung des Nahostkonflikts rütteln, seien nicht erwünscht.
       „Israelsolidarische Linke und zionistische Juden haben in vielen dieser
       antirassistischen Bündnisse keinen Platz“, sagt er.
       
       Derartige Ausschlussmechanismen führen dazu, dass Jüd:innen nur dann ein
       Teil der Bewegung sein können, wenn sie gegen Israel sind und damit gegen
       den einzigen Staat, der Jüd:innen eine Zuflucht vor dem weltweiten
       Antisemitismus bietet. Die deutschlandübergreifende Gruppe „Jewish
       Resistance Alliance“, die sich aus ebendiesem Grund organisiert hat,
       kritisiert: „Im antirassistischen Kontext wird nur selten mitgedacht, dass
       auch viele Jüd:innen migrantische Identitäten haben, sie also teilweise
       nicht nur von Antisemitismus, sondern auch von Rassismus betroffen sind.
       Vor allem der Vorwurf aus vielen antirassistischen Kreisen, zionistische
       Jüd:innen oder Unterstützer:innen des Existenzrechts Israels seien
       rassistisch, trifft besonders hart.“
       
       Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus ist kein
       ausschließlich deutsches Problem: Auch Black-Lives-Matter-Gruppen (BLM) in
       den USA, England und Frankreich wurde dahingehend ein blinder Fleck und die
       Unfähigkeit zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus zu
       unterscheiden attestiert. So wurden im Zuge mehrerer [4][BLM-Proteste
       Synagogen und jüdische Geschäfte geschändet], zu Angriffen auf „Zionisten“
       aufgerufen, uneingeschränkte Unterstützung für die „Befreiung Palästinas“
       und für die BDS-Bewegung sowie die Ablehnung des „Apartheidstaats Israel“
       erklärt. Zwischen den Fronten finden sich schwarze Jüd:innen wieder, die
       bei solidarischer Kritik an der BLM-Bewegung Anfeindungen aus dem
       antirassistischen Milieu erlitten. Bis heute steht eine Distanzierung von
       BLM von diesen lautstarken antisemitischen Äußerungen aus.
       
       Bevor die Rechte, unter dem Vorwand Antisemitismus anprangern zu wollen,
       die Kritik an migrantischen Bündnissen für ihre rassistische Agenda
       vereinnahmt, bedarf es einer radikalen Selbstkritik, etwas, was die Linke
       seit Jahrzehnten auszeichnet, um ebendiese Gruppen inklusiver,
       universalistischer und somit auch weniger angreifbar zu gestalten. „Ich
       sehe eine Form von Abwehr der Auseinandersetzung mit dem
       Nationalsozialismus und der Schoah. Die Linke ist mehr denn je gefragt,
       hier selbstkritisch zu sein und eine klare Solidarität mit Jüdinnen und
       Juden zu bekennen und zu leben“, sagt Antisemitismusforscher Salzborn. Dazu
       gehöre auch eine scharfe Kritik am antiisraelischen Antisemitismus.
       
       21 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Rechter-Anschlag-in-Hanau/!t5563930
 (DIR) [2] /Palaestinenser-im-Nahostkonflikt/!5609741
 (DIR) [3] /Schauspieler-Elyas-MBarek/!5767907
 (DIR) [4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/black-lives-matter-antijuedische-toene-machen-vielen-angst.1079.de.html?dram%3Aarticle_id=492076
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anastasia Tikhomirova
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Antirassismus
 (DIR) Black Lives Matter
 (DIR) Holocaust
 (DIR) Al-Quds-Tag
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) BDS-Movement
 (DIR) Kolumne Habibitus
 (DIR) Antisemitismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Eine Begegnung in Ramallah: Wären wir nicht die, die wir sind
       
       Ein Ausflug zu einem palästinensischen Freund in Ramallah. Heißt: Essen,
       Trinken – und ein verstörendes Gespräch über den Holocaust.
       
 (DIR) Debatte um WDR-Moderatorin: El-Hassan wird nicht moderieren
       
       Nemi El-Hassan wird die Wissensschafts-Sendung „Quarks“ nicht moderieren.
       WDR-Intendant Buhrow erwägt, sie als Autorin für die Sendung einzusetzen.
       
 (DIR) Protest gegen Antisemitismus: Beleidigt und bespuckt
       
       Die neu gegründete Initiative gegen Antisemitismus ruft am Sonntag zur
       Kundgebung in Neukölln auf. Auch der Bezirksbürgermeister will teilnehmen.
       
 (DIR) Autorin über modernen Antisemitismus: „Woke? No fucking way!“
       
       Politisch zu sein ist mehr denn je von Coolness geprägt, sagt die Autorin
       Mirna Funk. Antizionismus habe sich sehr gut eingefügt in den Trend des
       Gerechtigkeitskämpfers.
       
 (DIR) Debatten innerhalb Communitys: Zwischen Kritik und Schadenfreude
       
       Ob Antisemitismus in der Antirassismusszene oder Transfeindlichkeit unter
       Feminist_innen: Es passiert. Nur ist es schwer zu ertragen.
       
 (DIR) Schauspieler Elyas M’Barek: Fack ju Antisemitismus
       
       Schauspieler Elyas M’Barek wird angefeindet, weil er sich im Netz gegen
       Judenhass ausspricht. Was den Fall so alarmierend macht.