# taz.de -- Hochwasser in Westdeutschland: Land unter Wasser
       
       > Die Flut im Westen Deutschlands hat katastrophale Folgen. Was tun die
       > Menschen vor Ort? Fünf Eindrücke aus der Region – über Angst und
       > Zusammenhalt.
       
 (IMG) Bild: Im Eifelort Schuld haben die zerstörerischen Wassermassen nicht nur Bäume entwurzelt
       
       Alle Wege vom Wasser versperrt 
       
       Meine Frau und ich wurden um drei Uhr in der Nacht zum Donnerstag von einem
       lauten Piepsen geweckt. Erst dachte ich, das sei ein Rauchmelder. Aber die
       Tiefkühltruhe piepst, wenn der Strom ausfällt. Mein Handy hatte kein Netz.
       Wir wussten deshalb gar nicht, was los ist und schliefen wieder ein. Wir
       bekamen nur mit, dass es die ganze Nacht sehr, sehr stark regnete.
       
       Morgens um 8 Uhr sahen wir dann das Wasser auf der Straße. In unseren
       Keller lief etwas Wasser, zum Glück nicht viel. Mein Bruder wohnt weiter
       unten am Bach. Weil es keinen Handyempfang gab, konnte ich ihn stundenlang
       nicht erreichen. Wir sind dann vorbeigefahren, ihm geht es zum Glück gut,
       das Haus steht, aber sein Grundstück und der Garten sind komplett
       überflutet und zerstört.
       
       Meine Frau und ich hatten an diesem Morgen einen Termin zur Coronaimpfung.
       Wir dachten wirklich, wir schaffen es da hin, wir wussten ja ohne Handynetz
       nicht, was um uns herum passiert. Ich konnte das Garagentor nicht öffnen,
       weil der Strom weg war. Weil wir die Impfung nicht verpassen wollten, habe
       ich ein Auto von einem Nachbarn geliehen. Als wir losfuhren, waren über uns
       schon Helikopter, die ganze Stadt war voller Polizei-, Feuerwehr- und
       Krankenwägen.
       
       Die Schule meiner Kinder ist komplett unter Wasser. Weil alle Wege vom
       Wasser versperrt waren, konnten wir die Stadt nicht verlassen. Die
       Ahrbrücke ist eingestürzt. Auch Internet, Strom und Trinkwasser sind
       ausgefallen. Das Mobilfunknetz kam schneller wieder. Auf Social Media sah
       ich Videos aus Ahrweiler. Die Rettungswägen und die Feuerwehr kamen teils
       kaum durch, weil sie erst Platz zwischen den ganzen Gaffern schaffen
       mussten. Das stört, wenn hier nach Angehörigen gesucht wird, die vermisst
       werden.
       
       Es regnet immer noch zwischendurch. Meine Frau und meine Kinder haben
       Angst, dass das Wasser doch noch kommt. Ich versuche ruhig zu bleiben. Uns
       helfen die Gespräche mit den Nachbarn, wir unterstützen einander. Die
       Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft, die man in Sinzig spürt, ist sehr
       stark. Das habe ich zuvor noch nicht erlebt.
       
       Jeton Hexa, 36, ist Bürokaufmann in Sinzig (Kreis Ahrweiler).
       
       Protokoll: Niko Kappel 
       
       Ein Archivpfleger rettet Geschichte 
       
       Wir waren überrascht, wie schnell das Wasser kam und stieg. Ich bin sofort
       rüber ins Archiv, ich wohne nur 100 Meter entfernt. Da waren draußen schon
       50, drinnen 30 Zentimeter Wasser. Mit einem Mitarbeiter habe ich versucht,
       alles aus den unteren Regalen nach oben zu räumen. Ich hatte Angst. Wir
       sind danach durch ein Fenster aus dem Raum herausgeklettert und stiegen
       draußen in einen See mit 70 Zentimetern Tiefe – weil wir gar nicht
       einschätzen konnten, wie hoch das Wasser steigt und ob noch ein Boot oder
       ein Hubschrauber kommt, um uns zu retten. Das war dramatisch.
       
       Unser Archiv beherbergt Unterlagen aus fünf Kirchengemeinden im
       Pastoralverbund Balve-Hönnetal. Die älteste Schrift ist von 1414. Wir haben
       uns sofort an das Erzbistumsarchiv und die Fachaufsicht gewendet und
       gesagt: „Leute, helft uns, was können wir machen?“ Und die haben
       vorgeschlagen: Alles kommt in eine Kühlkammer und wird eingefroren, damit
       sich der Zustand nicht mehr verschlimmert.
       
       Ich schätze, dass ein Fünftel des Materials entweder ganz oder etwas feucht
       ist. Wir konnten zwar alles aus den unteren Regalen retten, aber ich kann
       noch nicht einschätzen, wie groß der Schaden am Ende wirklich ist.
       
       In einem halben Jahr zieht das Archiv in ein neues Pfarrheim, es steht
       schon im Rohbau. Ich kann hineinsehen und die Räume in meiner Fantasie
       einrichten. Das neue Gebäude liegt ein bisschen höher, da wäre das nicht
       passiert. Und jetzt stehe ich trotzdem hier, in Wasser und Schlamm. Der
       Pfarrer hilft seit heute Morgen mit weiteren Leuten beim Aufräumen. Er
       kniet da genau wie wir anderen im Dreck. Viele wollten helfen, die Gemeinde
       ist überschaubar, mit den Nachbarorten haben wir knapp 12.000 Einwohner. Es
       kommen Leute mit Kaffee, mit Essen oder mit einem Schrubber. Das ist
       einzigartig.
       
       Und: Der Großteil des Pfarrarchivs ist nicht beschädigt, kann weiter
       genutzt werden. Da treten wir das Erbe unserer Väter an, wir erhalten die
       Dinge und pflegen sie. Die Geschichte existiert bei uns weiter. In guten
       Händen. Auch wenn sie manchmal wässrig sind.
       
       Rudolf Rath, 78, ist Archivpfleger des Pfarrarchivs St. Blasius in Balve.
       
       Protokoll: Julia Weinzierler 
       
       Ein Dorf rettet die Backstube 
       
       Keiner hat geglaubt, dass es mal so weit kommt wie am Mittwochabend. Es
       ging unheimlich schnell. Der Wasserpegel der Borke stieg innerhalb von zwei
       Stunden um einen Meter an.
       
       In unserem Dorf Langenholthausen floss das Wasser in die Backstube der
       heimischen Bäckerei. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Familie,
       Freunde, Nachbarn, der Fußballverein und die Landjugend wurden kontaktiert.
       Ich bin um halb sechs direkt von der Arbeit zur Backstube gefahren, meine
       Frau und mein Sohn waren schon vor Ort.
       
       Es kamen Menschen aus dem ganzen Dorf. Manche kannte ich gar nicht. Jede:r
       hat sich einen Eimer, eine Flitsche oder einen Besen gegriffen und versucht
       das Wasser aus der Backstube zu schöpfen. Zwischen sechs und acht Uhr war
       die totale Eskalation. Mit fünfzig Menschen haben wir eine Reihe zum
       tiefsten Punkt der Stube gebildet und Eimer voll mit Wasser nach oben
       durchgereicht. Insgesamt waren dreißig Feuerwehrleute und mehr als hundert
       Freiwillige im Einsatz.
       
       Eineinhalb Stunden haben wir gearbeitet – dann ging nichts mehr. Wir
       schafften es einfach nicht, wir konnten die Wassermassen nicht mehr
       abschöpfen. Der Grundwasserspiegel war so stark angestiegen, dass die
       Fliesen hochgedrückt wurden, das Wasser sprudelte aus dem Boden. Wir haben
       aufgehört zu schöpfen und Sandsäcke geholt, um zumindest den Anbau der
       Backstube und die Technikräume zu schützen. Wo zuvor die Eimer hochgereicht
       wurden, wurden nun Sandsäcke nach unten gereicht. Es fehlte nicht mehr
       viel, vielleicht zehn Zentimeter, und die eigene Stromversorgung der
       Bäckerei wäre überschwemmt worden.
       
       Doch gegen acht Uhr hat es dann endlich aufgehört zu regnen. Es hat dann
       noch eine Stunde gedauert, dann sackte der Wasserpegel ab und das Wasser
       zog sich zurück. Wir hatten Glück. Während die letzten Helfer in der Nacht
       noch am Putzen waren, stellten die Bäcker schon die Öfen an, um Brötchen
       zu backen. Als erstes für die Helfer.
       
       Wolfgang Grote, 57, ist Serviceleiter einer Autowerkstatt aus
       Langenholthausen.
       
       Protokoll: Maike Schulte 
       
       Was packt man ein, wenn die Flut kommt? 
       
       Wir wohnen in Kerpen-Balkhausen, von unserem Haus aus sind es 750 Meter
       Luftlinie bis zur Erft. Donnerstagabend sind hier Teile des Dorfes
       evakuiert worden, unser Haus steht zum Glück noch 20 Höhenmeter weiter
       oben, sodass wir vielleicht noch davonkommen, falls das Wasser hier doch
       noch steigen sollte.
       
       Unsere größte Angst hier ist gerade, dass die Steinbachtalsperre nicht hält
       und die Erft dann noch mehr überläuft. Vielleicht geht es gut, aber man
       weiß ja nie. Wir sind mit der Information ins Bett gegangen, dass uns im
       Notfall jemand rausklingeln wird, über Social Media kriegt man ein bisschen
       was aus den umliegenden Orten mit. Im direkten Vergleich ist es bei uns
       eigentlich noch relativ entspannt. Aber die Stimmung hier im Dorf ist
       wirklich ganz komisch, gespenstisch irgendwie. Unser Haus ist gleich am
       Ortseingang und hier stehen Polizisten, die lassen niemanden mehr rein. Und
       die ganze Zeit hört man Sirenen heulen. Viele Menschen hier haben Bekannte,
       Verwandte und Freunde, die in Erftstadt wohnen, in einem Radius von kaum 10
       Kilometern um Kerpen, und schon weg mussten. Dort sind ja Häuser
       eingestürzt und auch ein Teil der Burg. Das bedrückt mich sehr, auch wenn
       wir gerade selbst noch nicht so direkt betroffen sind.
       
       Wir haben trotzdem gepackt und sind auf alles vorbereitet. Vorher habe ich
       meinen Papa angerufen und gefragt, was man denn überhaupt einpackt in so
       eine Notfalltasche. Was nimmt man da mit, wie viel nimmt man mit, was ist
       eigentlich wichtig? Das ist so schwer zu beziffern. Eine Freundin aus
       Erftstadt-Blessem hatte Sachen für einen Tag eingepackt und musste dann aus
       ihrer Wohnung raus. Jetzt weiß sie aber gar nicht, wann und ob sie
       überhaupt noch mal in ihre Wohnung zurück kann, oder ob sie sich überhaupt
       imstande fühlt, sich die ganze Zerstörung vor Ort anzusehen.
       
       Und ich sitze hier auf gepackten Koffern und versuche zu arbeiten – das ist
       auch irgendwie komisch. In meiner Tasche sind jetzt ein paar bequeme
       Klamotten, ein bisschen Kosmetik und Wertsachen natürlich, der Laptop,
       meine Kamera. Und auch ein Foto, das mir am Herzen liegt.
       
       Annika Gerigk, 26, ist Kampagnenmanagerin in Kerpen-Balkhausen.
       
       Protokoll: Lin Hierse 
       
       Stadt am Fluß 
       
       Den ganzen 14. Juli über, dem Nationalfeiertag im nahen Frankreich, hat es
       geregnet in der Region, auch in Wittlich, einer Kleinstadt mit 20.000
       Einwohnern zwischen Mosel, Eifel und Hunsrück. Gerne macht man sich in der
       Gegend lustig über die Wittlicher, weil sie behaupten, dass sich ihre Stadt
       an der Mosel befindet -zumindest, wenn es darum geht, Wein zu verkaufen.
       Tatsächlich liegt die Stadt am eigentlich beschaulichen Flüsschen Lieser –
       und der verwandelt sich in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli in einen
       reißenden Strom: Um 0.50 Uhr tritt die Lieser im Bereich der Innenstadt
       über die Ufer und ergießt sich in die nahe Innenstadt. Ein Wehr ist zudem
       gebrochen – und die Feuerwehr ist im Dauereinsatz, auch zu Hilfe gekommene
       aus anderen, benachbarten Gemeinden: Tiefgaragen und Keller sind
       vollgelaufen. Arztpraxen, ein Autohaus, eine Psychotherapie-Praxis. In den
       Kellern läuft Heizöl aus, sie müssen nach und nach ausgepumpt werden.
       
       Eigentlich hatte sich die Stadt Wittlich erst vor kurzem darauf besonnen,
       dass sie eine „Stadt am Fluss“ ist und hatte 2018 den Uferbereich der
       Lieser in der Innenstadt völlig neu gestaltet, mittels einer Öffnung: Wo
       vorher nur eine abweisende Flutmauer war, konnten sich die BürgerInnen der
       Stadt nun an den Fluss setzen, auf eine gegenüberliegende Open-Air-Bühne
       schauen. Für den Fall eines Hochwassers sollten eigentlich mobile
       Schutzwände eingesetzt werden – doch dann kam die Jahrhunderflut, die jeden
       Rahmen sprengte.
       
       Inzwischen ist das Wasser zurück gegangen. Menschenleben waren in Wittlich
       nicht zu beklagen – im Gegensatz zu den betroffenen Gemeinden in der Nähe
       des nicht weit entfernten Nürburgrings in der Eifel. Wer sein Haus in der
       Nacht hatte verlassen müssen, wurde in einem der städtischen Gymnasien von
       DRK und Malteser Hilfsdienst versorgt. Die Stadt Wittlich ist noch einmal
       mit einem blauen Augen davon gekommen. Alle hoffen nun auf einen Rückgang
       des Wassers. Und darauf, dass der Alltag weitergehen kann: Gemeinsam mit
       den Verbandsgemeinden hat die Kreisverwaltung Vulkaneifel entschieden, alle
       Schulen und Kindertagesstätten am Freitag, 16. Juli, und damit am letzten
       Schultag vor den Ferien wieder regulär zu öffnen.
       
       Martin Reichert
       
       16 Jul 2021
       
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