# taz.de -- Album von US-Drummer Gerald Cleaver: Groove und wildes Denken
       
       > Jazzdrummer Gerald Cleaver weicht ab von der Norm. Auf „Griots“ mischt er
       > analoge Polyrhythmik mit elektronischer Klangerzeugung.
       
 (IMG) Bild: Keine Angst vor Experimenten: Gerald Cleaver
       
       Den Flow seiner Musik, so hat es Gerald Cleaver in einem Interview kürzlich
       dargelegt, interpretiert er als „Abgleich meiner eigenen physischen und
       mentalen Energien in einem wertfreien Raum“. Im Fluss sein heißt für den
       US-Jazzdrummer, wildes Denken mit Fokussierung auf das Wesentliche im
       Groove zu verbinden. Wer möchte, kann Cleavers Gestaltungsprinzip nun
       anhand seines neuen Albums „Griots“ in der Praxis nachverfolgen.
       
       In der Musik der sieben Songs geht es um modulare Synthese: Analoge und
       digitale Klänge treffen aufeinander, Beats kollidieren, programmierte
       Drumcomputersounds und shuffelnde, von ihm selbst eingespielten Grooves,
       die er zu Loops umgewandelt hat, dazu perlen blinkende Keyboardriffs auf,
       die der 58-Jährige mit einem VCV-Rack emuliert. Elektronik ist für Cleaver,
       dessen Diskografie als Drummer mehr als 20 Alben umfasst, etwas Neues. Erst
       2017 hat er begonnen, mit der Software Ableton zu experimentieren,
       inzwischen hat er sich auch mit Keyboards angefreundet, obwohl er kein
       Piano spielt.
       
       Sein Soloalbum „Signs“ trug vergangenes Jahr erste Früchte dieser kreativen
       Auseinandersetzung, nun wird „Griots“ auch beim belgischen Label Meakusma
       veröffentlicht. Elektronik habe ihn auf ein neues Level beim Musikmachen
       gebracht. „Dass ich dazu in der Lage bin, jeden Aspekt von Klang zu
       modulieren, finde ich sehr reizvoll.“ Auch wenn er als Drummer eher selten
       Energy-Playing frönt, seine elektronischen Tracks klingen meist schroff,
       darin jedoch stets elegant.
       
       Wie hängt Cleavers improvisatorische Anwendung von progressiven
       elektronischen Kompositionsmethoden mit dem Albumtitel „Griots“ zusammen,
       der die archaische Kommunikationsform von afrikanischen Trommeln in
       Erinnerung ruft, wie sie durch die brutale Verschleppung von Menschen und
       ihre erzwungene Arbeit in der Ära der Sklaverei im 17. Jahrhundert auch in
       die USA getragen wurde? Den Austausch mit Kollegen findet Cleaver, der seit
       Mitte der 1990er eine feste Größe der US-Jazzszene ist, zentral.
       
       ## Freejazz meets Steinzeit-Höhlenmalerei
       
       Für „Griots“ hat er den kubanischen Musiker David Virelles eingeladen und
       den Trompeter Ambrose Akinmusire. Cleaver hat sowohl an der Seite von
       Pionieren wie Roscoe Mitchell (Art Ensemble of Chicago) als auch mit
       jüngeren europäischen Freejazzkolleginnen wie der dänischen Saxofonistin
       Lotte Anker gespielt. Er fungiert als Bandleader, aber er ist auch als
       Sideman tätig und offen für Abweichungen von der Norm: 2018 kreierte er
       zusammen mit dem Saxofonisten Larry Ochs im Duo das Album [1][„Songs in a
       Wild Cave“], aufgenommen in einer Höhle mit Steinzeitmalereien nahe
       Toulouse. Dessen Klangdynamik bläst die HörerInnen um.
       
       Grundlegende Freiheiten von Jazz, seien sie melodiöser, harmonischer oder
       rhythmischer Natur, prägen Cleavers Schaffen. Er hört oft Musik mit dem
       Kopfhörer und hört genau hin, dies erde ihn. Gleichwohl, die Musik auf
       „Griots“ klingt so, als sei sie zwischen den Ringen des Saturn entstanden,
       schillernd, Genre-Grenzen sprengend und futuristisch im besten Sinne. Mal –
       wie in „Virelles“ – erzeugt Cleaver mit einzelnen Tönen lange Echos, lässt
       diese wie Kaskaden aufsteigen und eine Weile stehen, bis sie dann elegant
       am Mischpult weggezogen werden.
       
       Mal wird die Musik – wie bei dem Track „Victor Lewis“ – von einem Beat
       getragen, der sich nonlinear bewegt und dabei gleich mehrere
       spannungsgeladene Rhythmuswechsel vollführt. So entsteht Musik, deren
       Klangsignatur den Markern von Detroit Techno nähersteht als der
       Virtuosität, die man gemeinhin mit zeitgenössischem Jazz und seinen oft
       hermetischen Performance-Techniken assoziiert. Besonders den schneidenden
       Edits und DJ-Skills von Techno-Produzenten wie Kenny Larkin und [2][Jeff
       Mills] ist Cleavers Sound verwandt.
       
       Obwohl er bereits seit 20 Jahren in New York lebt, sieht Gerald Cleaver
       sein Heranwachsen in [3][Detroit] als elementar für sein Schaffen an. Schon
       sein Vater war in der lokalen Jazzszene als Drummer aktiv, sein liberales
       Elternhaus habe ihn positiv beeinflusst. „Detroit ist eine zutiefst
       proletarische und sehr schwarze Stadt. Trotz der prägenden Auto-Industrie
       gibt es viel Raum für interessante Kultur abseits vom Mainstream.“
       
       Jazz und Elektronik, wenn diese beiden Pole so verschmelzen und trotzdem
       ihre Konturen behalten, wie in der Musik von Gerald Cleaver, dann führt das
       zu äußerst spannenden Wechselwirkungen.
       
       5 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://larryochs.bandcamp.com/album/songs-of-the-wild-cave-11-2018
 (DIR) [2] /Bildband-und-Musik-von-Jeff-Mills/!5077839
 (DIR) [3] /Debuetalbum-von-Waajeed-aus-Detroit/!5552345
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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