# taz.de -- Jazzconnection Madagaskar – Frankreich: Hardbop-Blues mit Bambus-Zither
       
       > Musiker aus Frankreich und Madagaskar schufen in den 60ern eine
       > florierende Jazzszene. Einige mitreißende Alben der Zeit sind wieder
       > erhältlich.
       
 (IMG) Bild: Jef Gilson probt mit madegassischen Saxofonistenim „Jazz-Club de Tananarive“ in Antananarivo 1969
       
       Obwohl Madagaskar vor dem ostafrikanischen Kontinent liegt, ist es eines
       der am spätesten besiedelten Gebiete der Erde. Erst gegen 300 vor unserer
       Zeitrechnung kamen sowohl afrikanische Boote als auch solche, die den
       weiten Weg von Indonesien zurückgelegt haben, auf der großen Insel an.
       Einflüsse beider Siedlungsbewegungen sind in Kultur und Sprache bis heute
       nachweisbar. Im 18. Jahrhundert etablierte sich ein erstes zentral
       regierendes Königreich, das erst 1896 von den Franzosen nach mehreren
       gescheiterten [1][Kolonialisierungsversuchen] unterworfen wurde.
       
       Es gibt verschiedene madegassische Musikinstrumente, die auf
       südostasiatische wie auf südafrikanische Einflüsse schließen lassen. Das
       bekannteste ist die Valiha, eine Art Zither aus Bambusrohr, die etwa von
       dem großen [2][Rakotozafy], dem „Django Reinhardt der Valiha“ in den 1950er
       und 60er Jahren auch außerhalb der Insel ein wenig bekannt gemacht wurde.
       
       Es ist absurd und lustig, wenn man die einschlägigen ethnomusikalischen
       Compilations anschaut, bei denen die Stücke nicht irgendwelchen
       Künstler:innen, sondern „Stämmen“ und Ethnien zugeschrieben werden, und
       dann sind dazwischen drei Nummern, die einer Person zugeordnet werden:
       Rakotozafy. Del Rabenja und Sylvin Marc, zwei der wichtigsten Jazzer aus
       der madegassischen Diaspora in Frankreich, beziehen sich immer wieder
       explizit auf Rakotozafy.
       
       ## Notorisch unterbewertete Künstler
       
       Jef Gilson war ein französischer Jazzer, der schon mit 19 in der Band des
       Rive-Gauche-Dichters [3][Boris Vian] spielte und sich immer wieder neue
       Rollen ausdachte: Pianist, Labelmacher, Kritiker und Herausgeber einer
       Zeitschrift. Er coachte mit Jean-Luc Ponty, Michel Portal und Bernard Vitet
       gleich drei der nicht so zahlreichen international bekannten Größen des
       notorisch international unterbewerteten französischen Jazz. Ihn
       interessierte Avantgarde und Free-Jazz genauso wie glamouröse
       Bläserensembles.
       
       Er erfand sich als Bigband-Direktor und Großarrangeur, flirtete kurz mit
       Elektronik und „totaler Improvisation“ („Le Massacre du Printemps“), im Mai
       1968 war er zufällig mit seiner damaligen Band in Madagaskar hängen
       geblieben. In vier Sessions mit den Franzosen und lokalen Musikern entstand
       „Gilson/Malagasy“, das er 1972 als erste Veröffentlichung auf seinem
       Palm-Label herausbrachte. Jetzt ist es von dem Pariser
       Reissue-Spezialistenlabel Souffle Continu wiederveröffentlicht.
       
       Dieses mitreißende Dokument einer beiderseitigen Faszination zwischen dem
       als Franzose nie ganz „authentischen“ Euro-Jazzer und den nie ganz
       südafrikanischen Madegassen steckt voller charmanter Details: Verschiedene
       Rhythmusauffassungen innerhalb der Gruppen, ein supereleganter
       Hardbop-Blues mit südafrikanischem Thema aus der Feder des madegassischen
       Tenoristen Serge Rahoerson treffen auf ein nach südafrikanischem Jazz
       klingendes Piece, das aber der mitgereiste Franzose Jean-Charles Capon
       komponiert hat.
       
       ## Suggestiv-ornamentale Percussion
       
       Nicht zum letzten Mal setzt Gilson seinen bewährten „Chant d’Inca“ ein,
       mühelos übernehmen hier die madegassischen Xylophone die nicht ganz
       unexotistisch gedachte Funktion suggestiv-ornamentaler Percussion – nur
       spielt die Gilson selbst. Während Roland de Cormamond, Spross der Familie,
       die jahrzehntelang das madegassische Label Discomad geführt hat, das neben
       Singles des erwähnten Rakotozafy Tausende globaler Rock- und Pop-Singles
       für den madegassischen Markt gepresst hat, am Altsaxofon das zentrale Stück
       der Sessions dominiert: [4][„The Creator Has a Master Plan“ von Pharoah
       Sanders].
       
       Der afroamerikanische Free Jazz hatte ja in diversen Projekten demonstrativ
       den Weltmusikbegriff in den späten 1960ern neu besetzt: als
       afrodiasporisch-panafrikanische Begegnungsszenen, wie sie das Art Ensemble
       of Chicago ausagierte, die sich nun aber auch auf Indien, Bali und andere
       Weltteile beziehen sollten. Eine musikalisch-konventionellere Variante
       davon, mit liedhaften Themen und rollenden Grooves, auf expressive Gesten
       beschränkten Free-Jazz-Momenten, aber kaum weniger intensiven Zuschnitts
       war [5][Pharoah Sanders’ Arbeit] nach Coltranes Tod, zwischen 1967 und 1974
       – und genau daran wollte Gilson anschließen.
       
       Sein Sinn für schmissige Eleganz sollte mit afroasiatischen Percussions und
       wohl gesetzten Momenten des Ausbruchs eine andere Formel eines
       multikontinentalen Jazz bilden, die an Pharoah Sanders ebenso anschloss wie
       an die Südafrikanisierung der britischen Szene im selben Zeitraum durch die
       in London exilierten Musiker um Dudu Pukwana, Louis Moholo und Chris
       McGregor.
       
       ## Diaspora der Multi-Instrumentalisten
       
       Doch wieder in Paris traf Gilson auf eine andere Gruppe bereits in der
       französischen Diaspora lebender Madegassen, denen er kurzerhand den
       Bandnamen Malagasy (= Madagaskar) übergab, den er ursprünglich für die Band
       in Antananarivo geprägt hatte. Diese Leute um den Valiha-Virtuosen Del
       Rabenja und den superamtlichen Bassisten, Arrangeur und
       Multi-Instrumentalisten Sylvin Marc hatten aber bereits eigene
       Vorstellungen. Auch von ihnen gibt es jetzt bei Souffle Continu zwei
       Wiederveröffentlichungen aus den frühen 1970er Jahren, eine mit und eine
       ohne Gilson, beide ursprünglich auf Gilsons Palm-Label erschienen.
       
       „Malagasy/Gilson at Newport“ ist ein Meisterwerk: Auf der Basis eines
       angefunkten „spirituellen“ Jazz brilliert nicht nur Gilson als Komponist
       zweier Eckpfeiler der ganzen Band. Zum einen mit „Salegy Jef“, eine auf
       traditionelle madegassische Melodik zurückgehende Ballade mit einem
       ausgeflippten Sylvin Marc, der E-Gitarre wie Vahila spielt, und mit
       „Requiem Pour Django“, das es an Formschönheit fast mit [6][Ornette
       Colemans „Lonely Woman“] aufnehmen kann und mit Django Reinhardt jenen
       Instrumentalisten ehrt, der genau wie Del Rabenja ein folkloristisch
       überliefertes Zupfen zu einer jazzmäßigen Eleganz erhoben hat.
       
       „Madagascar Now“ erschien als Album von Del Rabenja und Sylvin Marc, es
       spielt dieselbe Band, nur ohne Gilson. Sylvin Marc komponiert für die
       zweite Seite gleich drei sehr unterschiedliche Tenor-dominierte Stücke:
       eines funky, eines experimentell-smart mit Ornette-Anleihen und eine
       weitere kosmisch-spirituelle Pharoah-Sanders-artige Nummer. Alle Saxofone
       spielt Del. Die andere Seite wird von sagenhaften Valiha-Stücken dominiert.
       Die ständig die Instrumente wechselnde Band wärmt sich derweil für einen
       weiteren Höhepunkt auf, an dem sie dann 1974 beteiligt sein sollten.
       
       ## Leckerste Freejazz-Konstellationen
       
       Der aus Philadelphia stammende US-Saxofonist Byard Lancaster, der in den
       1960ern an einigen der leckersten Free-Jazz-Konstellationen beteiligt war
       (in Bands von Sunny Murray, Larry Young, Marzette Watts oder Bill Dixon),
       gehörte Anfang der 1970er zur damals stetig wachsenden afroamerikanischen
       Free-Jazz-Diaspora in Paris. Zugleich unterschied er sich sowohl von den
       strengeren radikal Atonalen als auch von den spirituellen
       Coltrane-Verehrern durch seine Liebe zu Funk und einem weltlicheren Umgang
       mit dem Schilfrohrmundstück.
       
       Lancaster schnappte sich das hocheklektische Madegassenquintett, brachte
       mit dem AACM-Veteranen Steve McCall und dem – neben Gilson – anderen
       französischen Free-Jazz-Großkatalysator und Gesamtdenker François Tusques
       und deren Freunden eine Band zusammen, die mit „Funny Funky Rib Crib“ eine
       gewaltige zehnstimmige Crossovermomentaufnahme auf den Weg brachte.
       
       Über weite Strecken klingt das wie eine von James Brown verlassene (oder
       befreite) Monstersession der J.B.s, begleitet von dem madegassischen
       Funk-Ensemble; dazwischen versucht Lancaster sich an Stilbrüchen, etwa als
       Sänger einer veritablen Blues-Rock-Nummer. „Funny Funky Rib Crib“ erscheint
       erst 1979, fünf Jahre nach der Aufnahme und nach anderen Kollaborationen
       von Gilson mit der Madagaskarcrew, also neben Del Rabenja und Sylvin Marc
       mit Zizi Japhet, Frank Raholison und Gérard Rakotoarivony, und als letzte
       Veröffentlichung des Palm-Labels: Leider sind nur die hier erwähnten
       momentan erhältlich, der Rest ist vergriffen und weitgehend unbezahlbar.
       
       Auch andere spannende Künstler wie Jacques Thollot und der oft mit Gilson
       zusammenarbeitende Christian Vander von Magma haben das Label geprägt.
       Gilson hat seit den 1980ern nur noch wenig aufgenommen und starb 2012. 2017
       hat ein Quartett mit Del Rabenja als Palm Unit sich auf einem Doppelalbum
       („Chant Inca“) seiner erinnert – mit Sanders’ „Masterplan“ als Finale und
       einigen atemberaubenden Vahila-Tracks von Rabenja.
       
       10 Sep 2021
       
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