# taz.de -- Exil in Großbritannien und Israel: Wiedersehen in Windermere
       
       > Skandale prägen das Polit-Leben Großbritanniens in diesem Sommer. Hier
       > sprach unsere Autorin mit Alisa, einer 92-jährigen Jüdin aus Wien.
       
 (IMG) Bild: Alisa (letzte Reihe, zweite von rechts) und andere jüdische Mädchen 1940 im Kinderheim Windermere
       
       Großbritannien hat einen ungewöhnlichen Sommer erlebt. Zuerst musste
       [1][der moralisierende Gesundheitsminister Matt Hancock zurücktreten]. Er
       hatte während der dritten Coronawelle gepredigt, man dürfe nur drei
       Familienmitglieder umarmen, und wurde dann selbst im Clinch mit einer
       attraktiven Italienerin gefilmt. Sie war nicht Teil seiner Familie, dafür
       aber eine alte Flamme, die er mit Steuergeldern als „Beraterin“ eingestellt
       hatte.
       
       Hancock verschwand erst aus den Schlagzeilen, [2][als die korrupten
       Lobbyistengeschäfte von Ex-Premierminister David Cameron] bekannt wurden,
       der bildungsschwache Erziehungsminister Gavin Williamson seine Abiturnoten
       unterschlug und der Außenminister Dominic Raab sich in Kreta sonnte,
       anstatt seine Landsleute aus Kabul zu retten (ganz zu schweigen von
       Afghanen, die dort mit der britischen Armee zusammengearbeitet hatten).
       
       Was viele Briten in diesem Sommer zudem ebenfalls erboste, waren die
       überhöhten Preise für PCR-Tests. Gemeinsam mit widersprüchlichen
       Reisewarnungen erschwerten sie es einkommensschwachen Familien mit Kindern,
       einen sonnigen Urlaub à la Dominic Raab zu erleben. Stattdessen reisten
       viele Briten dieses Jahr an englische Urlaubsorte – Cornwall im Süden und
       den Lake District im Norden. Und ausgerechnet in den Lake District wollten
       wir auch.
       
       ## Briten urlauben im Inland
       
       Unser Plan war es, dort die 92-jährige Alisa für eine Arte-Dokumentation zu
       interviewen. Alisa ist eine Wiener Jüdin, die kurz vor Kriegsausbruch mit
       einem Kindertransport flüchten konnte. In dem kleinen Ort Windermere im
       Lake District fand sie 1939 Zuflucht. 82 Jahre später schimmert der See
       Windermere immer noch blau und die Berge changieren in dreißig
       verschiedenen Grüntönen. Aber die verwinkelten Straßen des kleinen Ortes
       waren jetzt auf Kilometer verstopft, alle Hotels und Restaurants
       ausgebucht.
       
       Unsere Regisseurin ergatterte schließlich ein Zimmer, das bisher mit großer
       Wahrscheinlichkeit als Stundenhotel gedient hatte. Unser tapferer
       Kameramann Tim irrte stundenlang durch die Stadt, um etwas Essbares für
       alle aufzutreiben. Und trotzdem wurden die Dreharbeiten keine Katastrophe.
       Das lag natürlich an dem Gespräch mit Alisa, aber auch an den vielen
       Einheimischen, die uns halfen.
       
       Am beeindruckendsten waren Trevor Avery und seine Kollegin Rose Smith. Die
       beiden hatten kaum Geld, als sie 2010 eine kleine Ausstellung in ihrer
       örtlichen Bibliothek organisierten. Sie wollten an die 300 jüdischen Kinder
       erinnern, die Auschwitz, Buchenwald und Majdanek überlebt hatten.
       
       Im Sommer 1945 flog die Royal Air Force die „KZ-Kinder“ nach Windermere,
       damit sie sich in der idyllischen Landschaft ein wenig erholen konnten.
       Trevor und Rose spürten viele der Kinder auf, interviewten sie und luden
       sie ein, noch einmal nach Windermere zu kommen. Es ist den beiden zu
       verdanken, dass 2020 der Film „Die Kinder von Windermere“ entstehen konnte.
       
       Unsere Interviewpartnerin Alisa musste kein KZ erleben. Sie verbrachte den
       Krieg in der Sicherheit des Lake Districts, weit weg von Bombardierungen.
       Die Einheimischen von Windermere luden sie nach Hause ein, der örtliche
       Arzt behandelte sie kostenlos, und später bekam sie eine Lehrstelle im Ort.
       
       ## Freund aus dem KZ
       
       Jedes Wochenende ging Alisa ins Kino, und dort traf sie 1945 auf die
       „KZ-Jungens“. Einer von ihnen wurde ihr erster Freund. Heute lebt Alisa in
       Israel, aber mit ihrer großen Familie hat sie Windermere seither mehrmals
       besucht. Ein Foto des Ortes hängt zu Hause weiterhin an der Wohnzimmerwand.
       
       An der Großzügigkeit der Einheimischen hat sich auch im Jahr 2021 wenig
       geändert. Im Lake District trifft man auf keine Hancocks, Camerons oder
       Raabs. Windermere und Westminster sind zwar nur 430 Kilometer voneinander
       entfernt. Es könnten aber auch zwei völlig unterschiedliche Planeten sein.
       
       3 Sep 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karina Urbach
       
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