# taz.de -- Ironie der Geschichte: Die Nazis hingen auf der Toilette
       
       > Georg Marischka, Schauspieler und Antinazi, spielte im deutschen Film oft
       > Nazis, um finanziell zu überleben. Während echte Nazis Karriere machten.
       > ​
       
 (IMG) Bild: Georg Marischka 1994
       
       Das vergilbte NS-Urteil hing bei Georg auf der Gästetoilette. Er hatte es
       ausgesprochen gut platziert. Wenn man auf dem Klo saß, konnte man den Kopf
       leicht nach links drehen und das Urteil auf Augenhöhe studieren. Es
       informierte einen darüber, dass der 21-jährige Georg Marischka wegen
       „Wehrunwürdigkeit“ zu neun Jahren Zuchthaus und dem „Verlust der
       bürgerlichen Ehrenrechte“ verurteilt worden war. Er hatte 1943 den Fehler
       begangen, einer attraktiven BDM-Maid bei den Bayreuther Festspielen zu
       erklären, dass der Krieg verloren und Göring ein Morphinist sei.
       
       Georg war der beste Freund meiner Mutter, und ich lernte seine
       Gästetoilette kennen, als ich zehn Jahre alt war. Sie prägte mich
       nachhaltig. Das lag nicht nur an dem Urteil, sondern an der Gesamtcollage,
       die er dort auf kleinstem Raum geschaffen hatte. Georg interessierte sich
       nicht besonders für Innenarchitektur, aber er sammelte Autografen, die er
       mit großer Sorgfalt selbst rahmte. Jedes Nazi-Dokument bekam ein
       scharlachrotes Passepartout und wurde mit einem Foto des jeweiligen
       Briefschreibers – [1][Ribbentrop, Göring oder Himmler] – bebildert.
       
       Während die Nazis ausschließlich auf der Toilette hingen, verschönerten
       Originalbriefe – von Napoleon, Danton und Lady Hamilton – das Wohnzimmer.
       Ihr Hintergrund schimmerte dunkelblau, eine Farbe, die Georg mochte.
       
       Die Autografensammlung war sein kostspieliges Hobby, das er sich in keiner
       Weise leisten konnte. Er wurde als Regisseur nur sporadisch beschäftigt und
       musste sein Geld als Charakterdarsteller verdienen.
       
       Da seine massige Gestalt entfernt an Hermann Göring erinnerte, besetzte man
       ihn häufig als Nazi. Wenn eine Castingfirma wieder einmal einen dicken Nazi
       suchte, dachte sie an Georg. Die Ironie schien niemanden aufzufallen. Der
       Antinazi Georg spielte – genau wie viele jüdische Emigranten in Hollywood –
       Nazichargen, um finanziell zu überleben. Echte Nazis hingegen verwandelten
       sich in der Nachkriegszeit in „passive Widerständler“.
       
       Die Regisseure Wolfgang Liebeneiner oder Arthur Maria Rabenalt zum
       Beispiel, die bereitwillig Propagandafilme für das Regime gedreht hatten,
       blieben nach 45 gut im Geschäft. Auch Georgs NS-Richter und die Bayreuther
       Denunziantin wurden niemals für ihre Taten belangt. Ihre „Ehre“ blieb
       intakt, denn bis heute kann es teuer werden, wenn man tote Täter outet.
       Mithilfe des „postmortalen Persönlichkeitsschutzes“ verteidigen Kinder und
       Enkel die Reputation ihrer NS-Großeltern vehement.
       
       Mit teuren Anwälten und einem großen Werbeetat können sie vor Gericht viel
       erreichen. Die Kinder des Memminger Bürgermeisters Dr. Heinrich Berndl zum
       Beispiel schalteten Anzeigen gegen eine Publikation des renommierten
       Historikers Paul Hoser.
       
       Er hatte 2001 in seinem Buch „Die Geschichte der Stadt Memmingen“ gewagt,
       die Wahrheit zu sagen: Bürgermeister Dr. Berndl führte von 1933 bis 1945
       die Judenpolitik der NS-Regierung in Memmingen durch und erwarb nebenbei
       noch günstig arisierte Grundstücke für die Stadt. In den Augen der Familie
       verbreitete Hoser damit falsche Tatsachen. Dass er es nicht tat, wird er
       demnächst noch einmal untermauern können. Im Band 12 der Buchreihe „Täter –
       Helfer –Trittbrettfahrer“ erscheint im Winter sein neuer Aufsatz
       „NS-Belastete aus dem Allgäu“ über Berndl mit weiteren Quellenfunden.
       
       Manchmal muss man als Historiker eben einen sehr langen Atem haben. Genau
       wie [2][Stephan Malinowski,] der nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit
       den Hohenzollern jetzt Ende September in seinem Buch „Die Hohenzollern und
       die Nazis. Geschichte einer Kollaboration“ spektakuläre neue Funde
       präsentieren wird.
       
       Georg Marischka starb 1999, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er die
       Bücher von Hoser und Malinowski neben seinen schönsten Danton-Autografen
       platziert hätte.
       
       6 Jul 2021
       
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