# taz.de -- Buchpreis für Antje Rávik Strubel: Irgendwie unangenehm
       
       > Antje Rávik Strubel erhält für „Blaue Frau“ den Deutschen Buchpreis 2021.
       > Doch ihr #MeToo-Roman über eine junge Tschechin wirft einige Fragen auf.
       
 (IMG) Bild: In „Blaue Frau“ geht es um eine Vergewaltigung durch einen deutschen Politiker: Frauendemo in Prag
       
       Warum ist die Frau blau, die im Titel dieses Romans steht? Es ist schwer zu
       sagen. Vielleicht, weil die Wortzusammenstellung einen hübschen Binnenreim
       ergibt, was lyrisch und dadurch irgendwie bedeutungsvoll wirkt.
       Höchstwahrscheinlich handelt es sich aber eher nicht um die literarische
       [1][Wiederkehr der Jungfrau Maria,] die ja als blaue Frau schlechthin in
       die Kulturgeschichte eingegangen ist.
       
       Hat die religiös unbelastete Rezensentin eigentlich ein komisches, ganz
       individuelles Problem, wenn ihr beim Lesen immer wieder ungefragt, absolut
       unpassend, Bilder der Jesusmutter durchs Hirn blitzen? Das ist sehr lästig,
       denn die blaue Frau aus dem Buchtitel taucht im Laufe des Romans immer
       wieder auf, als geheimnisvolle Fremde, der ein Autorinnen-Ich auf den
       Straßen der Randgebiete von Helsinki begegnet.
       
       Autorinnen-Ich, blaue Frau und beider zufällige und dadurch gleichsam
       schicksalhafte Zusammentreffen bilden eine Art Rahmengeschichte, die sich
       in dünnen Schichten in den Roman schiebt und deren Funktion darin besteht,
       einen Erzählanlass für die eigentliche Handlung zu liefern. Gleichzeitig
       wird damit angedeutet, das Autorinnen-Ich könnte möglicherweise
       autobiografisch mit der tatsächlichen Autorin verbunden, die erzählte
       Handlung also der Realität entlehnt sein.
       
       Die eigentliche Geschichte ist folgende: Eine junge Frau, eine Tschechin
       mit dem seltsam untschechischen Namen Adina, geht aus ihrem Dorf im
       Riesengebirge in die weite Welt hinaus. In Berlin, wo sie einen Sprachkurs
       macht, lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum auf
       einem entlegenen Gut an der Oder vermittelt, wo jemand ein Kulturzentrum
       aufbauen will.
       
       Als ein wichtiger Kulturfunktionär das Anwesen besucht, wird die junge
       Praktikantin von dem Mann vergewaltigt (was nirgendwo in aller Deutlichkeit
       geschrieben steht, sondern sich aus dem Drumherum ergibt). Sie meldet den
       Übergriff ihrem Chef, doch alle spielen den „Vorfall“ herunter. Adina
       flüchtet Hals über Kopf, landet eher zufällig in Finnland, versucht das
       Ganze zu vergessen und lernt einen Mann kennen, einen estnischen
       Europadiplomaten, mit dem sie zusammenzieht.
       
       ## Den Deutschen anzeigen
       
       Da taucht auf einem wichtigen Empfang, den sie mit ihrem Freund besucht,
       ihr Vergewaltiger auf, und Adina merkt, dass sie das Erlebte nur hinter
       sich lassen kann, wenn sie es wagt, den politisch einflussreichen Deutschen
       anzuzeigen.
       
       Antje Rávik Strubel erzählt diese Geschichte in gebrochener Chronologie. In
       die schmale äußere Rahmenhandlung passt sich ein umfangreicherer
       Erzählrahmen ein, der in Finnland spielt und in dem die blaue Frau als
       identisch mit Adina erkennbar wird. Alle Ereignisse, die zur
       Finnlandepisode geführt haben, nehmen als Rückblick die Mitte des Romans
       ein.
       
       Dieser komplexe Aufbau, dessen äußerste Schicht etwas latent Manieriertes
       hat, ist nach innen gut darin begründet, dass es eines schockierenden
       Erlebnisses bedarf, damit das verdrängte Trauma ans Tageslicht kommen und
       zur Narration werden kann.
       
       ## Verklausuliert erzählt
       
       Formbewusstsein ist dieser Prosa auf allen Ebenen sehr tief eingeschrieben.
       Strubel beherrscht ihre Formen unbedingt. Auch sprachlich sitzt alles
       perfekt; die Sätze, die sie schreibt, sind von ausgesuchter Schlichtheit
       und Klarheit. Doch gleichzeitig ist jederzeit ein starkes Kunstwollen
       spürbar, das sich in der Wahrnehmung mitunter so weit nach vorn schiebt,
       dass die Form das eigentliche Sujet zu überlagern droht – und daneben auch
       den möglichen metaphorischen Gehalt, den die Handlung außerdem
       transportiert.
       
       Denn hinter der [2][verklausuliert erzählten #MeToo-Geschichte] lässt sich
       eine weitere narrative Linie mitlesen. Oder hat es etwa nichts zu bedeuten,
       wenn eine Tschechin sich ausgerechnet in die Arme eines Esten, und das in
       Finnland, flüchtet, nachdem sie von einem mächtigen (west)deutschen
       Europapolitiker vergewaltigt wurde? Kann wirklich eine so platte politische
       Europasymbolik unter dieser so sorgfältig aufs äußere Detail bedachten
       Prosa intendiert sein?
       
       Aber ob intendiert oder nicht – die Symbolik ist da, und sie kann
       mitgelesen werden und wirft auch noch eine weitere Frage auf: Hat es nicht
       selbst etwas Kolonisierendes, oder zumindest etwas Übergriffiges, wenn eine
       deutsche Autorin eine tschechische Romanfigur auf diese hochsymbolische
       Weise zum Opfer macht? Es schmeckt irgendwie unangenehm.
       
       Dieser Artikel erschien erstmals am 8. Oktober 2021.
       
       19 Oct 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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