# taz.de -- Roman „Every“ von Dave Eggers: Die große Gleichschaltung
       
       > Dystopische Satire mit Realitätsbezug: In der Fortsetzung von „Der
       > Circle“ unterwandert eine Frau einen fiktiven globalen Internetkonzern.
       
 (IMG) Bild: Wieviel Zukunft steckt in Dave Eggers Roman „Every“?
       
       Wenn Literatur den Lauf der Welt verändern könnte, dann hätte man
       eigentlich zumindest in Kalifornien schon längst etwas davon merken müssen.
       Denn dort, ganz in der Nähe von Googles Hauptquartier, [1][lebt Dave
       Eggers, der nicht nur einer der wohl umtriebigsten und produktivsten
       Schriftsteller] der US-amerikanischen Gegenwart ist, sondern auch einer der
       politischsten.
       
       Spätestens mit [2][seinem Roman „Der Circle“] (sowie dessen [3][Verfilmung
       mit Emma Watson und Tom Hanks]) ist Eggers auch weltweit berühmt geworden.
       Nun, acht Jahre später, hat er eine Fortsetzung fertig, in welcher der
       einstige „Circle“ noch mehr an Macht gewonnen hat.
       
       Eine kurze Rekapitulation: „Der Circle“ erzählte davon, wie eine junge
       Frau, die beim allgegenwärtigen Cyberkonzern The Circle anheuert, nach
       anfänglicher Reserviertheit zur überzeugtesten Verfechterin von dessen
       Anspruch auf flächendeckende Überwachung und absolute Transparenz jeder
       menschlichen Existenz in seiner Reichweite wird. Der damalige „Circle“
       stellte so etwas wie Google, Facebook und Apple in einem dar.
       
       Nun, in „Every“, ist der Konzern noch weiter in jeden Winkel der
       menschlichen Existenz hineingekrochen, hat er doch den weltgrößten, nicht
       minder allgegenwärtigen Onlineversandhändler aufgekauft – und damit auch
       dessen zur Überwachung aller privaten Haushalte fähigen Lautsprecher. Die
       Umbenennung des „Circle“ in „The Every“ macht die Allgegenwart des Konzerns
       sinnfällig.
       
       ## Als Insider einen Internetgiganten zu Fall bringen
       
       Die Hauptfigur in „Every“, eine junge Frau namens Delaney, ist eine Art
       Gegenentwurf zu [4][Mae Holland aus „Der Circle“]. Einerseits geht Delaney
       einen ähnlichen Weg wie einst Mae: Sie bewirbt sich bei Every und bekommt
       einen Job, bewährt sich in verschiedenen Aufgaben und zieht schließlich
       sogar auf den Firmencampus.
       
       Doch anders als Mae Holland, die in den vergangenen zehn Jahren einen
       steilen Aufstieg hingelegt hat und im neuen Roman als CEO des Every
       fungiert, verfolgt Delaney eine geheime Agenda: Sie plant, den Konzern von
       innen heraus zu Fall zu bringen.
       
       Ihr einziger Verbündeter und Eingeweihter ist ihr Mitbewohner Wes, ein
       begnadeter Programmierer. Beide leben bei Wes’ Mutter und deren Frau in
       einem der letzten nicht vollständig überwachten Viertel San Franciscos. Ihr
       Plan besteht darin, so viele absurde Ideen in den „Every“-Kosmos
       einzubringen, bis der Konzern sich am Ende selbst diskreditiert.
       
       Aber natürlich kommt es, wie es kommen muss: Das so raffinierte wie naive
       Vorhaben scheint nach hinten loszugehen. Keine Idee ist so absurd, als dass
       sie von der Every-Gemeinde nicht begeistert begrüßt würde. Hauptsache,
       jemand hat überhaupt neue Ideen.
       
       ## Keine Ambitionen, außer Selbstoptimierung
       
       Denn auf dem Every-Campus selbst leben die Angestellten in einer
       Wohlfühlblase, die sie so umfassend in den ihnen zugewiesenen Aufgaben und
       der physischen Selbstoptimierung aufgehen lässt, dass sie alle
       weitergehenden Ambitionen verloren haben. Niemand, auch nicht Mae, hat in
       den letzten Jahren eine innovative Idee gehabt; in derselben Zeit aber ist
       die Marktmacht des Konzerns durch permanente neue Unternehmensübernahmen
       stetig gewachsen.
       
       Zunehmend ratlos sieht Delaney mit an, wie die abseitigen Ideen, die sie
       und Wes unauffällig einbringen, umgehend zu neuen lukrativen Produkten
       gemacht werden: Darunter eine 3D-Anwendung, die virtuelle Reisen ermöglicht
       und den weltweiten Tourismus obsolet macht, sowie eine App, die Gespräche
       unter befreundeten Personen scheinbar auf ihren wahren Freundschaftsgehalt
       hin analysiert und dadurch menschliche Beziehungen vernichtet.
       
       Vor allem aber wird die zunehmende Verzahnung zwischen den
       Geschäftsinteressen des Every und der allgemeinen Gesetzgebung rasant
       beschleunigt: Der Überwachungslautsprecher des Konzerns wird darauf
       getrimmt, auch leichte Anzeichen häuslichen Unfriedens umgehend an die
       Polizei zu melden, was weitreichende Folgen hat.
       
       Was die technische Seite betrifft, ist, ähnlich wie in „Der Circle“, auch
       hier die Satire der Wirklichkeit nicht besonders weit voraus. Praktisch
       alle beschriebenen Anwendungen gibt es in ähnlicher Form bereits, oder sie
       sind zumindest (fast) möglich.
       
       ## Kameraüberwachung und Körperfixierung
       
       Die gesellschaftlichen Implikationen dagegen, die eine so umfassende
       Marktmacht eines einzigen Digitalkonzerns mit sich bringen kann, führt
       Eggers übersteigert vor. Oder vielleicht auch das gar nicht einmal so sehr?
       Eine große mentale Gleichschaltung innerhalb der einzelnen Blasen der
       internationalen Netz-Community gibt es auch in unserer Wirklichkeit längst.
       
       Der ständige Zwang zur Selbstoptimierung, dem alle Every-Angestellten
       unterworfen sind, ist in ähnlicher Form längst aus dem körperfixierten
       Kalifornien in andere Teile der Welt geschwappt. Eine großflächige
       Kameraüberwachung des öffentlichen Raums hat Großbritannien schon vor
       Jahren eingeführt. Und während Wes im Roman sich sogar noch weigern kann,
       seinen Hund chippen zu lassen (womit er ihm aber die Möglichkeit zum
       beschränkten freien Auslauf nimmt), ist das Tragen eines implantierten
       Chips für jeden ordentlich gemeldeten Familienhund in Deutschland Pflicht.
       
       Was wiederum die im Roman vorgeführte woke Überempfindlichkeit der
       Every-Angestellten betrifft, so lässt sich aus europäischer Sicht schwer
       sagen, wie viel davon übertrieben ist. Was Eggers allerdings sehr
       einleuchtend vorführt, ist der Zusammenhang zwischen übersteigerter
       Wokeness und der gleichzeitigen Verlagerung eines großen Teils des
       öffentlichen Diskurses in die Parallelwelt des Internets.
       
       Das größte Problem dieses Romans als narratives Werk ist nicht seine
       satirische Haltung an sich, sondern die Tatsache, dass seine Handlung den
       satirischen Absichten sehr stark untergeordnet wird. Aus irgendeinem
       inhaltlich nicht ausgeführten Grund durchläuft Delaney nacheinander sehr
       unterschiedliche Abteilungen des Konzerns. Ihr beruflicher Weg wird dabei
       zu einer Art erzählerischer Nummernrevue, mit neuen zweifelhaften
       Anwendungen in jeder Abteilung und neuen eigentümlich gehirngewaschenen
       KollegInnen.
       
       Nicht, dass Eggers diesen Vorgang nicht jedes Mal wieder unterhaltend und
       variantenreich zu erzählen verstünde. Das Prinzip wiederholt sich aber zu
       oft, als dass man nicht dennoch ermüden würde. Vielleicht liegt es genau
       daran, dass man zum Schluss hin nicht mehr genügend innere Beteiligung
       aufbringt, um ernsthaft überrascht zu sein, wenn die Handlung auf
       schockierende Art an Fahrt aufnimmt. Eher will es fast so scheinen, als sei
       dem Roman genau dieses Ende von Beginn an eingeschrieben gewesen. Zumindest
       schließt sich damit eine Art Kreis.
       
       17 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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