# taz.de -- Jurist über Rechte im Justizwesen: „Keine Berührungsängste“
       
       > In seinem Sachbuch „Rechte Richter“ geht Joachim Wagner der Gefahr durch
       > AfD-Juristen nach. In ihren Grenzüberschreitungen sieht er eine neue
       > Qualität.
       
 (IMG) Bild: Richter Jens Maier 2016 im Landgericht in Dresden
       
       taz: Herr Wagner, [1][in der taz gab es kürzlich einen Kommentar zur Frage
       der Gleichbehandlung der AfD im Bundestag]. Da hieß es als Fazit: „Wenn die
       Mehrheit des Bundestags die AfD wirklich für eine undemokratische und
       protofaschistische Partei hält, kann und sollte sie einen Verbotsantrag
       stellen. Bis dahin sollte die übliche parlamentarische Gleichbehandlung
       gelten.“ Hat der taz-Kollege nicht recht, dass wir, [2][auf das Thema Ihres
       Buches bezogen], es in einem Rechtsstaat hinnehmen müssen, wenn
       rechtsextreme Richter, Schöffen und Staatsanwälte im Justizwesen ihren
       Platz finden, solange die Politik nicht handelt? 
       
       Joachim Wagner: Solange die AfD nicht verboten ist, sind Richter und
       Staatsanwälte mit AfD-Parteibuch, aber auch reine rechtspopulistische
       Gesinnungsgenossen der AfD in den Reihen der Justiz zu dulden. Es gibt aber
       zwei Schranken. Auch rechte Richter müssen auf dem Boden der
       verfassungsmäßigen Grundordnung stehen. Und sie müssen die Gebote zur
       Mäßigung und politischen Neutralität beachten, gerichtlich wie
       außergerichtlich.
       
       Wird sich daran [3][durch den angekündigten Rücktritt von AfD-Chef Jörg
       Meuthen] etwas ändern? 
       
       In meinem Buch habe ich sorgfältig unterschieden zwischen den Richtern und
       Staatsanwälten, die von ihrer Gesinnung her eher dem pragmatischen
       AfD-Flügel zuzurechnen sind, und solchen, die eher dem völkisch-nationalen
       Flügel angehören. Rechtlich wird sich durch den angekündigten Rücktritt
       Meuthens nichts ändern. Bei jedem rechten Richter kommt es auf den
       Einzelfall an.
       
       Was unterscheidet denn AfD-Mitglieder oder -Sympathisanten genau von
       anderen Richtern und Staatsanwälten mit Parteibuch? 
       
       Ausgangspunkt für jede Beurteilung ist das Richterbild des Deutschen
       Richtergesetzes. Es geht von einem politischen Richter aus und begrüßt
       politische Betätigung, auch in Parteien. Es gibt etliche
       Bundestagsabgeordnete, die vorher Verwaltungs- oder Sozialrichter waren.
       Aber sie haben immer scharf zwischen ihrer beruflichen Arbeit und ihrer
       politischen Betätigung unterschieden. Was wir jetzt neu erleben, ist die
       Tatsache, dass die Grenze zwischen rechtspopulistischem Engagement und
       richterlicher wie staatsanwaltlicher Tätigkeit in Einzelfällen
       überschritten wird oder beide Bereiche sich in einer Grauzone vermischen.
       Das ist kritikwürdig und gefährdet unseren Rechtsstaat, insbesondere die
       politische Neutralität der dritten Gewalt.
       
       Was sind die schlimmsten Fälle solcher Grenzüberschreitungen? 
       
       Ein Richter vom Amtsgericht Zittau schreibt in einem Urteil, dass
       Bundeskanzlerin Merkel durch die offenen Grenzen 2015/16 „den öffentlichen
       Frieden mehr gefährdet zu haben scheint als ein wegen Volksverhetzung
       angeklagter Facebook-Kommentar“. Verwaltungsrichter in Gera sprechen in
       Urteilen von „renitenten“ Asylbewerbern oder einem „sogenannten“
       Kirchenasyl. [4][In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vertritt
       ein Richter Höfer die Auffassung,] dass der NPD-Slogan „Migration tötet“
       eine „empirisch zu beweisende Tatsache“ sei. Solche politischen Meinungen
       in Urteilen sind unzulässig. Sie hat es vorher nicht gegeben.
       
       Spiegelt sich darin auch die Stärke der AfD im Osten? 
       
       Es fällt auf, dass solche Tabubrüche relativ häufig in Sachsen und
       Thüringen vorkommen. Angesichts der Tatsache, dass die AfD bei den
       Bundestagswahlen in beiden Bundesländern stärkste Partei geworden ist, kann
       das nicht verwundern. Idealerweise soll die personelle Zusammensetzung der
       Richterschaft ja ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. In Gera gibt es zum
       Beispiel keine Berührungsängste zwischen einigen Verwaltungsrichtern und
       einem Wirt, der AfD-Landtagsabgeordneter ist und für das Amt des
       Oberbürgermeisters kandidiert hat. Die Verwaltungsrichter essen dort
       regelmäßig zu Mittag und haben seine Wahlpartys besucht. Solche Nähe
       zwischen Justiz und AfD kennt man in den alten Bundesländern nicht.
       
       Wer soll diese Nähe zum Rechtsextremismus sanktionieren? 
       
       Gesinnungen sind überhaupt nicht zu sanktionieren, sondern nur Verletzungen
       von rechtlichen Vorschriften. Die Dienstaufsicht liegt in den Händen der
       jeweiligen Gerichtspräsidenten. Sehr interessant ist, dass die zitierte
       Aussage zu Bundeskanzlerin Merkel und den offenen Grenzen als Gefährdung
       des öffentlichen Friedens vom Landgerichtspräsidenten in Görlitz mit einem
       sogenannten Vorhalt gerügt wurde. Dem wollte sich der Richter nicht beugen.
       Daraufhin hat der Bundesgerichtshof im November 2020 entschieden, dass eine
       solche politische Meinungsäußerung nicht in eine Urteilsbegründung gehört.
       Das ist ein richtungsweisendes Grundsatzurteil und bietet für
       Dienstvorgesetzte die Möglichkeit, gegen eine offene Politisierung in der
       Rechtsprechung vorzugehen. Das Urteil ist allerdings bisher ein Einzelfall
       geblieben.
       
       Bei der Bundestagswahl sind mehrere Vertreter der Justiz, die für die AfD
       im Bundestag saßen, nicht wieder ins Parlament gekommen. Bestes Beispiel
       dafür ist der Richter Jens Maier aus Sachsen: Was machen wir mit so
       jemandem? 
       
       [5][Maier ist dem völkisch-nationalen Flügel der AfD zuzurechnen und darf
       als Extremist bezeichnet werden.] Auf solche Rückkehrer aus der politischen
       Arena ist die Justiz nicht vorbereitet. Nach Rechtslage kann Maier
       verlangen, dass seine Disziplinarstrafe – ein Verweis – nach zwei Jahren
       gelöscht wird. Seine Personalakte wäre damit sauber. Eigentlich hätte er
       dann einen Wiedereinstellungsanspruch in die sächsische Justiz. Wie diese
       damit umgeht, wenn er wirklich zurückkehren will, ist völlig offen und
       rechtlich schwierig zu beantworten.
       
       Was hat sich mit der Coronapandemie verändert? 
       
       [6][Drei Corona-Urteile des Amtsgerichts Weimar und des Amtsgerichts
       Weilheim] spielen eine Sonderrolle. Neu ist hier, dass alle drei
       Amtsrichter mit ihren Beschlüssen eine rechtspopulistische Agenda verfolgt
       haben. Die Richter haben Familiengerichte missbraucht, um ihre politische
       Auffassung zur Maskenpflicht in der Schule zu verbreiten. In einem
       Beschluss wirft ein Richter der Bundesregierung sogar offen vor, mit
       „Schreckensszenarien“ zu agieren, den Lockdown nennt er „eine katastrophale
       politische Fehlentscheidung“.
       
       Wenn wir über Justiz in Deutschland reden, ist häufiger vom konservativen
       Korpsgeist die Rede, und das Schreckgespenst von Weimarer Verhältnissen
       wird beschworen. Wie sehen Sie das? 
       
       Nehmen wir das Beispiel des Richters Höfer in Gießen, der in einem Urteil
       gesagt hat, der NPD-Slogan „Migration tötet“ sei eine „empirisch zu
       beweisende Tatsache“. Daraufhin stellte der Anwalt eines Asylbewerbers den
       Antrag, Höfer wegen Befangenheit abzulehnen – und dann hat sich die ganze
       Kammer hinter diesen Richter gestellt und gesagt, der sei nicht befangen.
       Bis zum Bundesverfassungsgericht musste die Sache gehen, bis dieses
       festgestellt hat, dass die Ablehnung des Befangenheitsantrages
       „offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich“ war. Dass Richter Höfer
       seine politische Meinung als rechtliches Argument ausgibt, ist schlimm,
       dass seine Kammer ihn dann aber noch deckt, ist schlimmer.
       
       Enttäuscht hat mich ferner, dass die Initiative zu Disziplinarverfahren
       gegen Richter und Staatsanwälte nur in zwei Verfahren aus der Justiz kam.
       Alle anderen sind durch Druck der Zivilgesellschaft angestoßen worden. In
       der Justiz fehlt meist der Wille zur Selbstkritik und Selbstkontrolle.
       Ärgerlich ist weiter die mangelnde Transparenz bei Disziplinarverfahren mit
       politischem Hintergrund, zum Beispiel in Berlin und Sachsen. Sie werden
       dort als normale Personalangelegenheiten betrachtet, die vertraulich
       behandelt werden, obwohl die Justiz ein Verfassungsorgan ist und ein
       öffentliches Interesse besteht, Informationen darüber zu bekommen, ob sie
       ihrer Dienstaufsicht gegenüber rechten Richtern und Staatsanwälten gerecht
       wird.
       
       Wenn wir einmal unterstellen, dass die Vorgesetzten dieser Juristen nicht
       unbedingt selbst rechtspopulistisch sind, sondern dass sie mangelnde
       gesellschaftliche Sensibilität kennzeichnet, muss dann die Juristerei nicht
       letztlich wieder politischer werden – gerade auch in der Ausbildung? 
       
       Ich habe in den 1960er und 70er Jahren Jura studiert und promoviert. Es war
       immer klar, dass die Ausbildung vor dem Hintergrund des Versagens der
       Justiz in der Weimarer Republik und im Dritten Reich so gestaltet wurde,
       dass sich das nicht wiederholen kann. Ich muss sagen, dass ich bei der
       Lektüre vieler Entscheidungen erschrocken war, in welchem Maße Richter und
       Staatsanwälte heute wieder rein rechtspositivistisch argumentieren, ohne
       die Folgen ihrer Rechtsfindung angemessen zu berücksichtigen.
       
       Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Staatsanwälte bei der Beurteilung von
       antisemitischen Plakaten der rechtsextremistischen Partei „Die Rechte“ nur
       nach Argumenten suchen, die zu einer Straflosigkeit führen, alle Argumente,
       die für eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung sprechen, hingegen nicht
       angemessen gewichten. Das kann ich nicht verstehen.
       
       18 Oct 2021
       
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