# taz.de -- Migrationspolitik der Union: Brutal zurück
       
       > Unionsfraktionschef Brinkhaus kritisiert die „brutale Offenheit im
       > Bereich Migration“ der Ampelkoalition – und zeigt die Verzweiflung seiner
       > Partei.
       
 (IMG) Bild: Kein Zurück in die Zeit der brennenden Migrantenhäuser: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, 1992
       
       Brutale Offenheit. Bei dieser Wortkombination handelt es sich um ein
       Oxymoron. Der [1][gute alte Duden] sagt, der Name dieser rhetorischen Figur
       bedeute „klugdumm“ und komme vom griechischen oxýs, was so viel bedeutet
       wie „scharf, spitz, scharfsinnig“, und móros, was „einfältig, dumm“ heißt.
       Das passt zu dem, was der Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus einen Tag
       nach Vorstellung des Koalitionsvertrags im Deutschlandfunk-Interview über
       die migrationspolitischen Ziele der Ampelkoalition gesagt hat: [2][„Wir
       hätten sicherlich nicht diese brutale Offenheit im Bereich Migration
       gehabt.“]
       
       Warum haut Brinkhaus so früh am Morgen mit so widersprüchlichen
       Konstruktionen um sich? Das neue Regierungsbündnis hat in finanz- und
       sozialpolitischen Fragen zweifellos einen starken, dominanten Gelbstich.
       Man muss aber auch feststellen, dass dieses progressiv-neoliberale Bündnis
       in gesellschaftspolitischen Fragen Maßnahmen plant, [3][die mit der Union
       nicht möglich waren].
       
       Der Paragraf 219a, der Ärztinnen und Ärzten verbietet, über sichere
       Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, wird abgeschafft. Im Bereich
       innere Sicherheit klingt es danach, als wolle die Ampelregierung das
       angehen, was die Union mit Innenminister Horst Seehofer lange blockierte:
       Sicherheitsbehörden sollen besser kontrolliert werden, etwa mit einem
       unabhängigen Polizeibeauftragten, der Einsatz von V-Leuten soll
       parlamentarisch nachvollziehbar werden.
       
       Und auch in der Migrationspolitik sollen Dinge passieren, die mit der Union
       selbst unter der ach so progressiven Angela Merkel nicht möglich gewesen
       wären: Die Ampelkoalitionäre schreiben von mehr legalen Fluchtwegen, einer
       Zusammenarbeit mit einer Koalition der Willigen, falls die Herausforderung
       der Migration nicht auf EU-Ebene gelöst werden kann, wonach es derzeit
       stark aussieht. Die neue Regierung will dafür eintreten, dass keine
       Menschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass zivile Seenotrettung nicht
       mehr behindert wird. Sie will Bleibeperspektiven schaffen,
       Integrationskurse für alle, keine Arbeitsverbote, geduldete Azubis sollen
       eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und der Zugang zum Arbeitsmarkt für
       Migrant:innen grundsätzlich erleichtert werden.
       
       Erwartbar zynisch 
       
       Natürlich müssen diese Vorsätze dann an Taten gemessen werden. Aber sie
       liefern auch so schon eine Projektionsfläche für eine konservative Partei
       auf Identitätssuche. Deshalb sind Brinkhaus’ Worte erwartbar zynisch: Man
       denke bei der Wortkombination „brutale Offenheit“ einmal an die
       gegenwärtige Situation vieler Menschen an der polnisch-belarussischen
       Grenze. Und diese Worte klingen zynischer, wenn man bedenkt, dass auch ihr
       Urheber weiß: Deutschland leidet unter Fachkräftemangel, ist ein Land, das
       wegen seiner demografischen Entwicklung rein ökonomisch auf Migration
       angewiesen ist. Die FDP, deren lautesten Akteure gern auf den Grenzen nach
       Rechts balancieren, wenn es ihnen politisch opportun vorkommt, dürfte die
       neue liberale Migrationspolitik deshalb nicht so sehr als Zugeständnis
       empfinden.
       
       Brinkhaus’ Worte, der in seiner Partei alles andere als ein rhetorischer
       Hardliner ist, dienen nun also insgesamt als Indikator für den Grad der
       Verzweiflung der konservativen Partei. Sie erfüllen somit ein weiteres
       Kriterium für ein Oxymoron, nämlich, dass die Wendung, „die logisch
       betrachtet zunächst einmal widersprüchlich“ sei, „bei näherer Betrachtung
       und in bestimmten Zusammenhängen aber durchaus einen (Hinter)sinn“
       offenbare. Der „(Hinter)sinn“ von „brutale Offenheit im Bereich Migration“
       lautet: Die Konservativen in Deutschland sind am Arsch und wissen nicht wie
       weiter.
       
       Manche sehen in Friedrich Merz die Erlösung. Merz soll die Union
       entmerkelisieren, zu ihrem wahren Kern zurückführen. Auch Brinkhaus scheint
       an diese Überlebensnotwendigkeit zu glauben. In dieser Zeitung schrieb ein
       Kollege vor Kurzem, d[4][ass Merz als Parteivorsitzender dafür sorgen
       könne, dass das Konservative nicht heimatlos werde], dass sonst das
       Erstarken der blaubraunen Alternative drohe.
       
       Die Zeit lässt sich aber nicht zurückdrehen. Und wenn man sie zwanghaft
       zurückdrehen will, dann geht das nicht, ohne demokratische Standards zu
       entsorgen. Denn die Zeiten von Helmut Kohl waren nicht nur die der
       blühenden Landschaften. Sie waren auch jene der brennenden Migrantenhäuser.
       
       25 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Oxymoron
 (DIR) [2] https://www.deutschlandfunk.de/zuviel-rot-gruen-bei-ampel-interview-ralph-brinkhaus-unions-fraktionschef-dlf-c6fa158e-100.html
 (DIR) [3] /Einigungen-der-Ampel-Parteien/!5817741
 (DIR) [4] /Friedrich-Merz-kandidiert-als-Parteichef/!5813980
       
       ## AUTOREN
       
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