# taz.de -- Berlin als Ort der Literatur: Wo der Laptop steht
       
       > Vom Sehnsuchtsort zur Selbstverständlichkeit: Ist Berlin auserzählt? Eine
       > Momentaufnahme. Zugleich ein Rückblick auf die Literatur dieses Jahres.
       
 (IMG) Bild: Einmalig in einer Großstadt, die Weite des Tempelhofer Feldes
       
       Es gibt sie noch, man kann sie weiterhin unternehmen, diese Gänge ins Weite
       und Offene, wegen denen unter anderem man schließlich einmal nach Berlin
       gezogen ist, vorbei an einem halben Dutzend historischer Hotspots und noch
       viel mehr unterschiedlichen Lebensentwürfen. Neulich erwischte mich noch
       einmal dieser freie Wind auf dem Tempelhofer Feld wie sonst nur am Meer.
       Und in Neukölln [1][begegnete ich in einem Pelmeni-Imbiss,] den ich noch
       nicht kannte, rauchenden russischen Damen wie aus dem Klischee.
       
       Doch das sind jetzt mehr so Ausflüge, und ein bisschen hat man dabei das
       Gefühl, als laufe man der Geschichte, die Berlin sein kann, hinterher, von
       wegen Labor Berlin, Großstadt und so, während Berlin aber tatsächlich
       kleiner geworden scheint. Die große, lockende Stadt, an der Schwelle zum
       zweiten Coronawinter schrumpft sie wieder zur unmittelbaren Umgebung.
       
       Auch wer sich stets dagegen wehrte, zur Kiezpflanze zu mutieren, sieht sich
       wieder zurückgeworfen auf die Straßen, die man noch konkret abläuft, zum
       Einkaufen und vielleicht noch zum Yogastudio. Begegnungen geht man aus dem
       Weg, und die Eindrücke verdichten sich kaum noch zur großen, den Alltag
       unter Spannung setzenden oder ihn gar überformenden Geschichte.
       
       Berlin ist der „Sehnsuchtsort derer, die selbstbestimmt und frei leben
       wollen, die mit Rollen und Masken experimentieren“. So steht es in Jens
       Biskys Monografie „Berlin: Biografie einer großen Stadt“; fast könnte man
       nostalgisch werden, [2][wenn man darin blättert.] Wenn man nämlich das Buch
       sinken lässt und aus dem Fenster sieht, dann ist da mit ausgelebter
       Sehnsucht und Lebens-Experimenten grad nicht viel. Der Pandemiealltag
       schluckt das weg.
       
       Spannung ist das Stichwort, sie war immer wichtig in Berlin, vor allem war
       sie immer da. „Die Spannung zwischen dem großen Ganzen, das keiner
       überblickt, und dem Kiez, der unmittelbaren Nachbarschaft, […] formt die
       Großstädter“, heißt es bei Bisky weiter. Und es stimmt einerseits
       natürlich, dass die Spannung gerissen ist, weil man unter Corona vom großen
       Ganzen gerade wenig hat. Aber ist das andererseits auch die ganze Wahrheit?
       
       ## Der Großstadtdschungel
       
       Das große Ganze, das keiner überblickt, das ist ja nicht nur das
       ausgedehnte Häusermeer, der Großstadtdschungel. Sondern das sind auch die
       leuchtenden, lockenden Geschichten von Selbstverwirklichung und Anderssein,
       Kreativitätsausleben, Durchfeiern und Seindingmachen, die an der Basis der
       Sehnsucht stehen, die Jens Bisky anspricht und Berlin ausmachen.
       
       Und kann es sein, dass die Spannung zwischen ihnen und dem Berliner Alltag
       sowieso nachgelassen hat? Auch schon vor Corona? Anders gesagt: Ist Berlin
       ein Stück weit auserzählt?
       
       Auf diesen Gedanken kann man kommen, wenn man dieses Literaturjahr Revue
       passieren lässt. Er hat ambitionierte und streckenweise tolle Romane über
       die Vorgeschichte des Labors Berlin hervorgebracht. [3][Ulrich Peltzer] hat
       in „Das bist ja du“ von den intellektuellen und lebensweltlichen Abenteuern
       des Heraustretens aus dem Identitätszwang (französische Philosophie, Liebe,
       Musik) erzählt.
       
       ## Mit historischem Edelrost
       
       [4][Sven Regener] führte in „Glitterschnitter“ mal wieder zurück in die
       Kreuzberger Boheme aus Teilnehmerperspektive und ohne all den
       Überbau-Schnickschnack. Und in den Berlinepisoden von [5][Emine Sevgi
       Özdamars Epos] „Ein von Schatten begrenzter Raum“ kann man in die
       Atmosphäre von geteilter Stadt und Nachkrieg eintauchen.
       
       Das alles sind sehr genau gearbeitete, jeweils eigensinnige Bücher, die
       allerdings eben auch von dem unter Germanisten sprichwörtlichen
       historischen Edelrost überzogen sind. Die Berliner Gegenwart kam dagegen
       nicht so ambitioniert vor. Und es stimmt ja auch. Will man einen weiteren
       Gentrifizierungsroman lesen?
       
       Und was für ein Möglichkeitsraum Berlin-Mitte nach dem Mauerfall gewesen
       ist, hat Lutz Seiler in „Stern 111“ schon 2020 beschrieben. Immerhin,
       Einblicke in den dysfunktionalen aktuellen Berliner Vermietungsmarkt
       finden sich in den Wohnungssuchkapiteln von Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“.
       
       ## Dieses Berlingefühl
       
       Der Punkt könnte also sein, dass die Geschichte von der leuchtenden,
       lockenden Stadt Berlin so bekannt und eingeführt ist, dass man sie
       historisch gestalten und dabei auch die Rückseiten beleuchten kann, dass es
       aber keinen großen Spaß macht, sie als neu und gegenwärtig zu behaupten.
       
       Daneben ist allerdings in diesem Literaturjahr auch noch etwas anderes
       passiert – und auch das gehört zu einer Momentaufnahme des Berlingefühls
       hinzu: Die Autor*innen mögen gerade nur zögerlich über die Gegenwart
       Berlins selbst erzählen, dafür erzählen sie aber aus Berlin heraus. Berlin
       scheint vom Thema zur Basis des Erzählens geworden zu sein.
       
       Tatsächlich kommt man mit der wenn auch groben Beschreibung ziemlich weit,
       dass noch vor zehn Jahren der idealtypische deutschsprachige
       Debütantennachwuchs im Prenzlauer Berg gewohnt hat und auch über den
       Prenzlauer Berg geschrieben hat und er inzwischen aber in Neukölln wohnt
       oder im Wedding und aber keineswegs über Neukölln oder den Wedding
       schreibt, sondern darüber, von wo er oder sie herkommt. Und Berlin ist
       dabei nicht nur der reale Ort, an dem Laptop und Schreibtisch stehen,
       sondern auch der Standpunkt, der es Autor*innen ermöglicht, einigermaßen
       gelassen auf das eigene Leben und auch den Rest der Welt zu blicken.
       
       ## Identitär nicht festgelegt
       
       Offenbar gilt gerade nicht mehr: Schaut auf diese Stadt! Sondern: Schaut
       aus dieser Stadt!
       
       Man kann dabei an einen Roman wie „Vater und ich“ von Dilek Güngör denken,
       deren Erzählerin in Berlin selbstverständlich als Radioredakteurin
       arbeitet, doch, sobald sie zu ihren Eltern ins Schwäbische fährt, wieder
       als Gastarbeitertochter identifiziert wird.
       
       Oder an „Das achte Kind“ von Alem Grabovac, der von Migration erzählt und
       von der Erfahrung, als Pflegekind aus dem ehemaligen Jugoslawien bei einer
       ziemlich rechten deutschen Familie in Westdeutschland gelandet zu sein;
       auch hier erscheint Berlin als der Ort, an dem man auf seine Herkunft
       zumindest nicht restlos identitär festgelegt wird und gerade deshalb erst
       von ihr erzählen kann.
       
       ## Bisschen krass immer wieder
       
       In Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“
       kommt Berlin in verschiedenen Perspektiven vor. Diejenigen Mitglieder der
       im zweiten Teil beschriebenen postsowjetischen Migrantenszene, die noch an
       Familienverbänden festhalten und verbrämten Sowjetzeiten hinterhertrauern,
       verbinden Berlin mit Einsamkeit. Für ihre jungen Nachgeborenen aber, bebend
       und teilweise überfordert von Lebensmöglichkeiten, bietet es alle
       Gelegenheiten, sich auszuprobieren: bisschen krass immer wieder;
       herausfordernd, klar; aber auch selbstverständlich und real.
       
       Wie es an einer Stelle heißt: „Berlin war ein Schild, das besagte:,Alle
       Richtungen'. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für jene, die noch
       tanken mussten.“ Salzmann braucht nur einige Stichworte anzutippen – Clubs,
       Queerness –, und man hat beim Lesen gleich den ganzen Hintergrund von
       Diversität und vielfältigen Identitäten im Kopf.
       
       Ein klassischer Spruch besagt, Berlin sei dazu verdammt, immerfort zu
       werden und niemals zu sein. Das ist in diesen Büchern, und sei es nur
       indirekt, anders. Es geht nicht um Sehnsucht, sondern um tatsächlich
       erreichte Errungenschaften. Berlin ist hier eine Stadt, in der man leben
       und arbeiten kann, ohne sich groß für seinen Lebensentwurf rechtfertigen zu
       müssen, von der als Basis aus man dann aber auch rückblickend oder sonst
       wie in die Welt schauend feststellen muss, dass es nicht überall so frei
       zugeht. Während wiederum das offene Leben in Berlin so selbstverständlich
       geworden ist, dass es gar nicht mehr eigens thematisiert werden muss.
       
       ## Böse auf die Großstadt
       
       Das trennt diese Bücher etwa von Juli Zehs „Über Menschen“ und anderen
       Landlebenromanen, die von einer wie ambivalent auch immer beschriebenen
       ländlichen Idylle aus böse auf die Großstadt Berlin blicken und in ihr ein
       entfremdetes Dasein ausmachen.
       
       Wobei das gesellschaftliche Momentum derzeit offenbar eher auf der Seite
       Berlins liegt. Wenn man in den rot-grün-gelben Koalitionsvertrag schaut,
       zum Beispiel auf die Vorhaben, den Paragrafen 219a abzuschaffen und
       gleichgeschlechtliche Elternpaare rechtlich besserzustellen, dann scheint
       Gesamtdeutschland gesellschaftspolitisch jedenfalls ein Stück weit an
       Lebensverhältnisse heranzurücken, die in Berlin längst selbstverständlich
       sind. In anderen Großstädten auch, doch in Berlin am
       selbstverständlichsten.
       
       Berlin als das ganz Andere einer strukturkonservativen Gesellschaft ist
       also tatsächlich wohl erst einmal auserzählt. Aber Berlin als
       selbstverständliche Basis des Erzählens hat natürlich auch seine Tücken.
       Wer weiß zum Beispiel, wie lange das noch so geht (die Mieten etwa sind ja
       wirklich rapide gestiegen). Außerdem gibt es die Geschichte vom Ankommen in
       Berlin und den Berliner Verhältnissen schon in so vielen Facetten, dass man
       inzwischen vielleicht auch einmal wieder neu vom Hiersein in all seinen
       internen Widersprüchlichkeiten erzählen kann.
       
       Vielleicht kommt also bald eher wieder eine Zeit für neue Berliner
       Gesellschaftsromane; Ansätze dazu gibt es, etwa bei Anke Stelling oder auch
       den Berlinszenen der „Blauen Frau“ von Antje Rávik Strubel.
       
       Mal sehen, welche Spannungen da sein werden, wenn Corona erst einmal wieder
       weg sein wird.
       
       5 Dec 2021
       
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