# taz.de -- Feministischer Roman: Springen oder zuschlagen
       
       > Mareike Fallwickls „Die Wut, die bleibt“ ist eine grimmige Abrechnung mit
       > den Zumutungen der Pandemie und des Frauseins. Wie geht
       > Selbstermächtigung?
       
 (IMG) Bild: Das macht wütend: Frauen die dasitzen und mit dem Abendessen auf den Mann warten
       
       Es gibt Sätze, an denen einfach alles falsch ist. Sätze, in denen so viel
       unterdrückte Aggressivität steckt, so viel Gedankenlosigkeit. „Haben wir
       noch Salz“ ist so ein Satz. Linguistisch betrachtet ist es ein Sprechakt,
       eine passiv-aggressive indirekte Handlungsaufforderung. Es fehlt Salz, du
       hast es vergessen, hol doch mal welches.
       
       Gerade Männer in heterosexuellen Paarbeziehungen sind Meister dieser
       Kommunikationsform. Und gerade Frauen, die Familienverantwortung tragen,
       fühlen sich auch noch zuständig, den Sprechakt zu beantworten, zu
       reagieren. Weil sie immer zuständig sind. Weil sie sich kümmern – denn eine
       muss es ja tun.
       
       Essen einkaufen und zubereiten, Kinderstreit schlichten, waschen, an den
       Geburtstag von Opa und an Arzttermine denken, Schulbrote schmieren.
       Arbeiten – ja auch. Aber wenn es für den Jüngsten keinen Kita-Platz gibt,
       wenn im Corona-Lockdown die Schulen zumachen, muss ja wer zu Hause bleiben.
       
       Eine wie Helene. Für die dreifache Mutter ist der Satz mit dem Salz einer
       zu viel – sie steht auf und stürzt sich vom Balkon. Für ihre halbwüchsige
       Tochter Lola aber markiert dieser Satz den Anfang einer neuen Zeit. Einer
       Zeit der Wut.
       
       ## Unbezahlte Frauenarbeit in Corona-Zeiten
       
       Erschöpfung und Wut. Mareike Fallwickls Roman „Die Wut, die bleibt“ ist
       eine fällige Abrechnung mit dem [1][Wahnsinn, der besonders Frauen in den
       zurückliegenden zwei Pandemiejahren zugemutet wurde]. EU-weit haben viel
       mehr Frauen als Männer in der Pandemiezeit ihre Jobs verloren, was der
       Begriff „she-cession“ ausdrückt. Gleichzeitig arbeiteten Frauen schon vor
       „Corona“ öfter in Teilzeit und leisten nach Feierabend unbezahlte Haus- und
       Sorgearbeit – Studien zufolge doppelt so viele Stunden täglich wie Männer.
       
       Das Aufreiben zwischen Homeschooling und Homeoffice führte laut der
       gesetzlichen Krankenkassen dazu, dass Frauen doppelt so häufig an
       Depression oder chronischer Erschöpfung erkrankten. Man kennt diese
       Studien, und sie machen schlechte Laune. Mareike Fallwickl hat daraus einen
       harten, wütenden und großartigen Roman geschaffen, der die ganze Misere des
       modernen Frauseins in ein grimmiges Lesevergnügen packt.
       
       Am Anfang steht die Erschöpfung. Wie sich das konkret anfühlt, wenn einer
       wie Helene, 37 Jahre, drei Kinder, die selbstgewählte Mutterrolle über den
       Kopf wächst:
       
       ## Tränen der Erschöpfung
       
       „Alle sind laut, das ganze Abendessen ein Lärm, nein, der gesamte Tag, voll
       mit ihrem Rufen, ihrem Wollen, ihrem Streiten und Bitten und Brüllen, es
       legt sich in Helene ab in diesen langen Stunden, die sie heimlich
       herunterzählt. Bis zu dem Moment, in dem die Kinder im Bett liegen und ihr
       in der Küche die Tränen kommen vor Erschöpfung. Aber dann: das Füßetappen
       in der Nacht, die kleinen Bäuche, die sich unter ihre Decke schieben, […]
       die klebrige Wärme. Sie ist nie allein, nicht einmal für Sekunden. Es ist
       nie still, nicht einmal zum Luftholen.“
       
       Helene wählt den spontanen Ausweg. Sie springt und hinterlässt eine
       klaffende Leerstelle im Leben ihres Mannes Johannes, ihrer Kinder und ihrer
       besten Freundin Sarah. Diese füllt als erfolgreiche kinderlose Autorin mit
       jüngerem Lover ein gegenteiliges Rollenmodell aus.
       
       Doch als Johannes sie um Hilfe bittet, springt sie mit einer
       Selbstverständlichkeit ein, die, wie sie sich selbst eingestehen muss,
       mindestens genauso viel mit einer anerzogenen Fürsorglichkeit zu tun hat
       wie mit dem, was sie ihrer verstorbenen besten Freundin zu schulden glaubt.
       
       Und schneller, als sie sich in den Alltag einer Ersatzmutter einfinden
       kann, holt auch Sarah jene Bitterkeit ein aus heruntergeschluckter
       Unzufriedenheit und unterdrückter Wut: „Johannes. Wie er passiv bleibt, wie
       er dahockt und isst und trinkt und dann den Teller stehen lässt und die
       Tasse, als wäre er in einem scheiß Hotel.“
       
       Der weiblichen Wut kommt in Fallwickls Roman eine Schlüsselrolle zu. Warum
       kennt Helene keinen anderen Weg, als ihre Wut über die Verhältnisse, in
       denen sie feststeckt, gegen sich selbst zu wenden?
       
       ## Erzogen zur Konfliktvermeidung
       
       Und warum vermag es Sarah nicht, weder Johannes, der ihre Hilfsbereitschaft
       ausnutzt, noch ihren selbstgefälligen Lover Leon, der sich in ihrem Haus
       breit macht, mit der nötigen Bestimmtheit entgegenzutreten? Ist sie
       wirklich zur Konfliktvermeidung erzogen worden – oder nicht eher viel zu
       beschäftigt damit, ihre Energien in die patriarchatskonforme
       Disziplinierung des eigenen Körpers zu stecken?
       
       In ihrer Anklage der condition feminine steht Mareike Fallwickl erkennbar
       in der Tradition einer Simone de Beauvoir. Doch die 1983 im Salzburger Land
       geborene Österreicherin ist natürlich ein Kind des third-wave-feminism der
       frühen Neunziger. Sie ist aber auch keine zwanzig mehr – und sie ist selbst
       Mutter. Das merkt man an ihrer Sprache, die frisch ist, aber nicht
       aufgesetzt, und ihren Frauenfiguren, die sie in all ihren Schwächen und
       Widersprüchlichkeiten zeichnet, ohne sie zu denunzieren.
       
       Die jüngste Frauengeneration wird im Roman verkörpert durch die 15-jährige
       Lola, Helenes Tochter. Cool ist sie, erklärte Feministin und woke bis in
       die Haarspitzen. Fährt Skateboard, trägt T-Shirts mit Zitaten von Ruth
       Bader Ginsberg. Vor allem aber ist sie wütend auf die Generation ihrer
       Mutter: Frauen, denen scheinbar die Welt offenstand, die studiert haben.
       Und dann dasitzen und mit dem Abendessen auf den Mann warten, der von der
       Arbeit kommt, bis es irgendwann zu viel ist.
       
       Wie ihre Mutter. Oder die selbst beim Fernsehabend den Bauch einzieht und
       die Schenkel günstig drapiert, wie Sarah. „Du bist erbärmlich“, sagt Lola,
       „ihr alle. Ihr denkt, ihr habt die große Freiheit, dabei seid ihr umgeben
       von den Gitterstäben der Gesellschaft und checkt nicht mal, dass ihr im
       Käfig hockt.“
       
       ## Die jungen Frauen lesen Missy-Magazin
       
       Große Worte, und natürlich stellt sich im Lauf der Romanhandlung heraus,
       dass sich so viel nicht geändert hat zwischen den Generationen. Lola und
       ihre Freundinnen lesen zwar das Missy Magazine und bauen den Glottisschlag
       flüssig in ihre Sätze ein. Doch auch sie hungern, um zu gefallen. Auch sie
       fügen dem eigenen Körper Schmerz zu, auch sie liegen, wenn es ganz blöd
       kommt, auf dem Boden, wehrlos, einen Männerkörper über sich.
       
       Mareike Fallwickls Roman bleibt zum Glück nicht stehen beim Lamento über
       mangelnden Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung. Sie gibt ihren
       Frauenfiguren (und der Leserin) Quellen der weiblichen Selbstermächtigung
       an die Hand: Selbstverteidigung. Essen. Solidarität unter Frauen. Und wie
       der Titel vermuten lässt: Wut.
       
       Lola und ihre Freundin Sunny wollen der erlebten Ohnmacht etwas
       entgegensetzen und besuchen einen Selbstverteidigungskurs für Frauen. Auch
       hier stehen sie auf den Schultern der zweiten Welle der Frauenbewegung, die
       in den 1970er Jahren Kurse entwickelte, die Selbstverteidigungstechniken
       mit feministischer Praxis zusammenbrachte.
       
       Auch die Verschwesterungsgedanken, die Lola in der Umkleidekabine ins Hirn
       schießen, sind gar nicht so originell – und ebenso nah am Feminismuskitsch
       gebaut wie schon bei den Latzhosenträgerinnen der 70er: „Lola fragt sich,
       wie es wäre auf dieser Welt, wenn die Männer die Frauen in Ruhe ließen. […]
       Wenn es keinen Lookism gäbe und kein Slutshaming und keine
       Heteronormativität. Nur Liebe. Verständnis. Zusammengehörigkeit.“
       
       ## Die Wut aller Frauen dieser Welt
       
       Die feministische Feelgood-Qualität dieses Romans besteht darin, dass Lola
       und ihre Freundinnen nicht beim Handkantenschlag stehen bleiben. Sie finden
       Gefallen am Zurückschlagen, an der Macht, die ihnen körperliche Gewalt
       verleiht, und gründen eine Art Mädchenkampfgeschwader: „Die Kraft in ihrem
       Faustschlag ist nicht die Wut eines Teenagers. Es ist die Wut aller Frauen
       dieser Welt.“
       
       Als „Thelma und Louise“ ins Kino kam, war Mareike Fallwickl acht Jahre alt.
       Seitdem Susan Sarandon und Geena Davis Hand in Hand in den Abgrund gerast
       sind, ist popkulturell viel passiert, man denke an Jamie Hewletts
       bierdosensaufendes Tank Girl oder die in strenges Schwarz gekleidete
       Brutalo-Agentin Black Widow aus den Marvel-Studios.
       
       Gesellschaftlich aber ist ein Ende der condition feminine nicht in Sicht.
       Gerade deshalb macht Fallwickls leicht überdrehte Idee eines speckigen,
       kahlrasierten Rächerinnen-Teams beim Lesen fast schon unanständig gute
       Laune.
       
       25 Mar 2022
       
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