# taz.de -- Krimi über haitianische Gesetzlosigkeit: Die exzessive Wirklichkeit Haitis
       
       > In Haitis Politik ringen Banditen mit Banditen um die Macht. Mit der
       > Satire „Die Zauberflöte“ attackiert Gary Victor die desolaten
       > Verhältnisse.
       
 (IMG) Bild: Gary Victor
       
       Obacht. Notwendigerweise ist im Folgenden von Fellatio die Rede, in
       schönen, ja lyrischen Worten – und nicht nur von Mord, Folter, Korruption
       und Terror. Oraler Geschlechtsverkehr steht buchstäblich im Zentrum von
       Gary Victors Roman „Masi“, der nun unter dem Titel „Die Zauberflöte“ auf
       Deutsch vorliegt. Vor allem geht es um einen verhängnisvollen Blowjob. Dem
       aktiven Part, dem sonst begabungsfreien Dieuseul Lapénuri, wird er einen
       Posten als Minister für moralische und staatsbürgerliche Werte im Kabinett
       Haitis einbringen, dem namenlosen Präsidenten einen Moment überbordender
       Lust bereiten.
       
       Nicht dass am Ende noch jemand schockiert ist über explizite Zitate
       einerseits oder andererseits das Fehlen, wenn nicht des Verbrechens, so
       doch seiner Aufklärung. Denn der Romancier Gary Victor hat den Ruf,
       düstere, sehr gewalthaltige Krimis zu schreiben, [1][was ja auch nicht ganz
       falsch ist]: Mal, in „Schweinezeiten“, werden Pflegekinder über ein von
       einer faschistischen evangelikalen Sekte betriebenes Heim an deren
       Hierarchen als Organspende exportiert. Mal wird der General einer fatalen
       UN-Blauhelmmission exekutiert, weil er in die kriminellen Machenschaften
       seiner Waffenbrüder hineingefunkt hat, wie in „Suff und Sühne“. Und immer,
       wirklich immer ist die Polizei mit von der Partie. Sie duldet, fördert,
       organisiert die Verbrechen, oder sie vertuscht sie.
       
       Wer nicht vergessen hat, wie reale Ermittler im realen Port-au-Prince nach
       nur zwei Tagen die Nachforschungen zum Ableben des UN-Kommandeurs General
       Urano Teixeira da Matta Bacellar eingestellt und ihn als Selbsttötung
       abgehakt hatten, weiß: Die Exzesse von Victors Büchern entstammen einer
       exzessiven Wirklichkeit. Ihr System wird mit dem Begriff „banditisme“
       bezeichnet: In ihr kämpfen Banditen als Politiker mit Banditen als
       Geistlichen oder Militärs und Banditen als Wirtschaftsführer um die
       Vormachtstellung. Und Voodoo- und Christentum ringen erbittert darum, die
       Köpfe zu beherrschen. Und mit Ängsten zu knechten, was man Seele nennt.
       Trauriges Haiti!
       
       ## Der Wahnsinn und das Chaos
       
       Anders als in Deutschland, wo sie stets am Ende Zucht und Ordnung
       wiederherstellen, siedeln Victors Kriminalromane in einem vom Gesetz
       wirklich verlassenen Raum. Mit Glück und diffus wie durch einen tropischen
       Nebel scheint in ihnen für einen Moment der lichte Gedanke an Gerechtigkeit
       auf, wenn der alkoholkranke Ermittler Dieuswalwe Azémar sich aus seinen
       Albträumen und Delirien löst und mit freudloser Gewalt volltrunken der
       Sache ein Ende bereitet. Die Gattung ermögliche ihm, „den Wahnsinn, und das
       Chaos aufzugreifen, die Haitis Lage auszeichnen“, erklärt Gary Victor der
       taz in einer E-Mail-Korrespondenz. Telefonieren geht gerade schlecht, die
       Internetverbindung wackelt.
       
       Die Lage aufgreifen ist das eine. Mit der herben Politsatire „Die
       Zauberflöte“ hingegen attackiert Victor sie frontal. Wieder einmal,
       gelegentlichen Drohungen zum Trotz. Denn ätzende Komik gehört schon seit
       jeher zu den Facetten des umfangreichen Œuvres, das der 1958 geborene
       Victor seit 1981 veröffentlicht hat. [2][Auch der wackere Litradukt-Verlag]
       kann es nur zum Bruchteil bewältigen: Bislang besteht es aus 23 Romanen, 13
       Erzählbänden und 6 Theaterstücken. Es ist jener selbstbewussten,
       transnationalen „Weltliteratur auf Französisch“ zuzurechnen, die das
       Manifest „Pour une littérature-monde en français“ 2007 ausgerufen hatte –
       als Gegenmodell zum Konzept der Frankophonie, also der virtuellen Einheit
       französischsprachiger Länder außerhalb Frankreichs. Victor zählte, neben
       Jean-Marie Gustave Le Clézio und Maryse Condé, zu den 44
       Unterzeichner*innen.
       
       ## Akzeptieren, formatiert zu werden
       
       [3][In seinem Beitrag zur gleichnamigen Essay-Anthologie hatte er
       analysiert,] wie die Frankophonie als kryptokolonialistisches
       Machtinstrument die Monopolstellung des einstigen Mutterlandes bewahrt.
       Gerade was die Literatur angeht, ihre Mittel, ihre Distributionskanäle.
       Diese bleiben ihm zufolge in Frankreich verankert. „Kein so genanntes
       frankophones Land ist in der Lage“, schreibt er, „einen Markt und eine
       symbolische Kraft zu entwickeln, die seinen Autoren ermöglichen würden, mit
       mehr oder weniger gleichen Waffen dazu in den Wettbewerb zu treten.“
       
       [4][Er selbst publiziert in Québec, wo das Verlagswesen aus ähnlichen
       Überlegungen erheblich gefördert wird.] Zwar könnten, räumt Victor ein,
       mitunter auch Autor*innen aus dem Globalen Süden auf Frankreichs
       Buchmarkt reüssieren. Doch dafür müssten sie sich diesem anpassen: Sie
       „akzeptieren, formatiert zu werden“. Statt französische Stimmen des Südens
       zu sein, werden sie zu südlichen Stimmen Frankreichs gemacht.
       
       ## Vom Vater mit Tritten erzogen
       
       Formatiert zu werden ist auch der Hauptcharakterzug des Ministerialbeamten
       Dieuseul Lapénurie, dessen [5][Name nach Mangel klingt] und nach
       verschrecktem Häschen riecht. Die Hauptfigur von „Die Zauberflöte“ besteht
       eigentlich nur aus Gesten der Unterwerfung. Darin liegt ihre Tragödie: Vom
       Vater mit Tritten erzogen, von Patres im Internat missbraucht, angetrieben
       von seiner ehrgeizigen Frau aus einflussreichem Haus und von seiner
       katholisch-charismatischen Gemeinde gen Macht bugsiert, gibt Dieuseul
       Lapénurie eine klägliche Gestalt ab.
       
       Gerade weil er sich nur durch Anpassung definiert, gerät er in die hohe
       Politik. Und versinkt, ratlos, in deren Wirren. Noch erklären kann er sich
       ja, dass er dank der Fürsprache von Kirchenvorstand und Schwiegervater zum
       Vorstellungsgespräch beim Präsidenten geladen wird. Doch wie dieses sich
       entwickelt, das hat er nicht erwartet.
       
       Er empfindet es wie einen suizidalen Sprung ins allzu warme Wasser der
       schönen Bucht von Porte-au-Prince, in der die Kanalisation der Hauptstadt
       mündet: „Dieuseul Lapénuri hatte das Ding in der Hand. Trotz seiner Härte
       pulsierte es“, schreibt Victor übers Tête-à-Unterleib mit dem Präsidenten.
       „Es war bedrohlich auf ihn gerichtet, wie ein Schwert, bereit ihn zu
       enthaupten. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass er in eine solche
       Situation geraten könnte. Er mochte Frauen. Nur Frauen. Alle anderen
       Praktiken riefen bei ihm einen fast schon metaphysischen Schrecken hervor.
       Er stürzte vom Steg und fiel in das von den Ausscheidungen der Stadt
       schleimig-grünliche Wasser. Öffnete langsam den Mund, schloss die Augen und
       spürte das warme Fleisch in sich. Er glaubte an den Adern des Gliedes den
       Herzschlag des Präsidenten wahrzunehmen.“
       
       ## Tiefe und Würde
       
       Peter Triers gut lesbare Übersetzung kann nicht ganz mithalten mit der
       erotischen Wucht und zärtlichen Poesie von Victors Französisch. In ihm
       vibriert die volle Ambivalenz des Akts, die Mischung aus Angst, Ekel,
       Neugier, katholischem Sündenbewusstsein und verinnerlichtem Auftrag, zwecks
       Karriere zu gefallen, die Lapénuris Herz und Kopf durchströmen. Ja, der
       lächerlichen Figur erwächst Tiefe und Würde in diesem seelischen Konflikt.
       Und wären es am Ende auch dessen physiologische Auswirkungen, die den
       Präsidenten in Ekstase versetzen?
       
       Fatal. Denn nicht dem Präsidenten einen zu blasen, das macht ja jeder, wohl
       aber ihn dabei zum Orgasmus zu bringen, ist ein Verstoß gegen die
       Spielregeln. Das wird der alles überwachende Innenminister dem Neuling
       eröffnen. „Der Präsident ist jetzt besessen von Ihnen“, mahnt er ihn, um
       dann zur offenen Drohung überzugehen: Man werde sich schon zu rächen
       wissen. Außer der Herr Minister für moralische und staatsbürgerliche Werte
       würde Waffengleichheit herstellen, indem er den Kreis der Günstlinge seine
       Geheimtechnik lehrt. Bloß wie könnte er, wo er von ihr selbst nichts weiß?
       
       ## Die Nachricht beherrscht die Headlines
       
       Lapénuri wird bald zur Zielscheibe von Anschlägen, Schüsse fallen im Hof
       seines Amtssitzes: Wie eine Vorahnung schwebt bereits der Schatten der
       Ermordung von Präsident Jovenel Moïse, den im vergangenen Juli ein
       Killerkommando erschossenen hat, über dem zum Heulen witzigen Werk. Der
       Gipfel der Bosheit aber ist jenes Dossier, das Lapénuri von seinen
       Kabinettskollegen untergejubelt wird, bezüglich eines Kulturfestivals, des
       „Festi Masi“. Es wird, gerade als er anfängt, aufrecht zu gehen, seinen
       Untergang besiegeln.
       
       Masi, der Originaltitel des Romans, ist auf Kreolisch eine abschätzige
       Bezeichnung für Schwule. Mitunter wird sie auch als Geusenwort verwendet:
       So tun es die in Kanada lebenden Organisator*innen des
       „[6][Massimadi]“, eines internationalen afro-diasporischen
       LGBTI-Film-und-Kulturfestivals. Das hätte 2016 in Port-au-Prince
       stattfinden sollen, und die bloße Ankündigung hatte dafür gesorgt, dass das
       gebeutelte Land auf einen Schlag keine anderen Probleme mehr hatte: „Die
       Nachricht beherrscht die Headlines, im Netz ist von nichts anderem die
       Rede“, hieß es damals in der Zeitung Le Nouvelliste.
       
       ## Im Namen der individuellen Freiheit
       
       Sehr bald wurde das Festival [7][verboten]. „Au nom de la liberté
       individuelle“, wie der zuständige Regierungskommissar verkündete, also „im
       Namen der individuellen Freiheit“. Einer der örtlichen Kuratoren von
       Massimadi, der Aktivist Charlot Jeudy, ist am 25. November 2019 ermordet
       worden. Einen Inspektor, der besoffen genug wäre, die ergebnislos
       versandeten Ermittlungen zu Ende zu bringen, gibt es nur in Büchern.
       
       Das Lachen, das er mit „Die Zauberflöte“ provoziert, ist ein bitteres. Es
       sei nicht Zeichen der Gewalt, insistiert Victor aber. Es sei schlimmer. In
       dem Gelächter nämlich, schreibt er der taz, erklinge „die Verzweiflung über
       den Zynismus und die Scheinheiligkeit“ der politischen Kaste, „über ihre
       Verachtung des Volks, der Nation – ja mehr noch: ihrer selbst“.
       
       3 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] http://litradukt.de/buecher/
 (DIR) [3] https://www.gallimard.fr/Catalogue/GALLIMARD/Hors-serie-Litterature/Pour-une-litterature-monde
 (DIR) [4] http://memoiredencrier.com/gary-victor/
 (DIR) [5] https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/franz%C3%B6sisch-deutsch/p%C3%A9nurie
 (DIR) [6] https://www.massimadi.ca/
 (DIR) [7] https://www.hpnhaiti.com/nouvelles/index.php/politique/36-space/1766-haiti-moeurs-le-festival-massimadi-annule
       
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