# taz.de -- Impfpflicht und Moralphilosophie: Grenzen der Freiheit
       
       > Liberale Philosophen lehrten uns, warum eine allgemeine Impfpflicht
       > moralisch geboten ist. Manche Liberale von heute scheinen das vergessen
       > zu haben.
       
 (IMG) Bild: Auch gegen die Pockenschutzimpfung sträubten sich manche – anders hier 1967 in Hannover
       
       Im Jahr 1905 führte der US-Bundesstaat Massachusetts eine Pflicht zur
       Impfung gegen die Pocken ein. Die Krankheit forderte dort zu der Zeit viele
       Todesopfer. Der aus Schweden stammende Pastor Henning Jacobsen verweigerte
       die Impfung für sich und seinen Sohn. Ihm wurde eine Geldstrafe auferlegt.
       
       [1][Dagegen zog er vor den Supreme Court], wo er argumentierte: „Falls eine
       Person es als wichtig erachten sollte, dass keine Impfung in ihrem Fall
       durchzuführen ist, obwohl die Obrigkeit diesbezüglich anderer Meinung ist,
       liegt es nicht in ihrer Macht, die Person mittels Zwang zu impfen.“
       
       Das Gericht wies die Klage ab: „Die durch die US-Verfassung gewährte
       Freiheit verleiht dem Einzelnen nicht das absolute Recht, jederzeit und
       unter allen Umständen frei von Einschränkungen zu sein. Es gibt
       mannigfaltige Einschränkungen, die jede Person um des Gemeinwohls willen
       über sich ergehen lassen muss.“
       
       Ein gutes Jahrhundert später soll in Deutschland eine Impfpflicht gegen
       Sars-CoV-2 eingeführt werden. Von ihren Befürwortern wird sie mit der
       aktuellen Notlage begründet: „Erste Untersuchungen zeigen, dass vor allem
       Booster-Impfungen auch gegen diese Mutation [Omikron; Anm. des Verf.] eine
       gute Wirkung entfalten können. Deshalb ist spätestens jetzt eine allgemeine
       Impfpflicht unabdingbar“, sagte beispielsweise Niedersachsens
       Ministerpräsident Stephan Weil (SPD).
       
       ## Die Frage der moralischen Pflicht
       
       Derartige, auf die aktuelle Situation und den medizinischen Nutzen
       verweisende Begründungen hätten Jacobsen nicht überzeugt, denn er war sich
       der Notlage durchaus bewusst. Um Jacobsen und seine geistigen Nachfolger
       umzustimmen, müssen wir grundsätzliche Fragen klären: Gibt es eine
       moralische Pflicht, sich gegen Corona impfen zu lassen? Wenn dem so ist,
       darf der Staat diese Pflicht von seinen Bürgern einfordern?
       
       Die Moralphilosophen [2][Alberto Giubilini, Thomas Douglas und Julian
       Savulescu begründeten in einem 2018 veröffentlichten Essay], weshalb es
       unmoralisch sei, sich nicht gegen gefährliche, ansteckende Krankheiten
       impfen zu lassen. Die Impfverweigerung sei unmoralisch, weil sie nicht auf
       einer verallgemeinerbaren Regel basiere (was wäre, wenn jeder so handelte?)
       und weil sie das Wohlergehen aller Betroffenen nicht maximiere, sondern
       gefährde.
       
       Wenn der Einzelne die moralische Pflicht hat, sich impfen zu lassen, folgt
       daraus jedoch nicht, dass der Staat dazu verpflichtet sei, eine allgemeine
       Impfpflicht einzuführen. Ehebruch gilt ebenfalls als moralisch verwerflich
       und trotzdem sollte der Staat keine Treuepflicht einführen. Vor allem
       Liberale weisen darauf hin, dass nicht jedes unmoralische Verhalten vom
       Staat sanktioniert oder verboten werden darf.
       
       Warum sollte der Staat nun ausgerechnet beim Impfen dem Einzelnen die
       Entscheidung nehmen? Vereinfacht gesagt: Weil die Nicht-Impfung nicht nur
       Einzelnen, sondern der Allgemeinheit schadet. Impfverweigerer gefährden
       nicht nur sich selbst, sie schaden auch anderen – vor allem jenen, die sich
       nicht impfen lassen können, sowie bereits Geimpften, die einen
       Impfdurchbruch mit schwerem Verlauf zu befürchten haben. Ferner belasten
       sie durch ihre deutlich höhere Hospitalisierungsrate das Gesundheitssystem
       auf Kosten der Allgemeinheit, von den Folgeschäden ganz zu schweigen.
       
       ## „Die Schädigung anderer verhüten“
       
       Schaden und Gefahr ziehen in jeder liberalen Ethik die Grenze der
       individuellen Freiheit. Staaten, andere Institutionen und Personen dürfen
       dann und nur dann die Freiheit des Einzelnen beschneiden, wenn er oder sie
       anderen Menschen Schaden zufügt.
       
       Dieses Prinzip geht auf den britischen Philosophen John Stuart Mill zurück,
       der 1859 schrieb: „Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen
       den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig
       ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“
       
       In Anbetracht dieser liberalen Grundüberlegung, die einige Liberale und
       Konservative heutzutage vielleicht vergessen haben, stellt eine Impfpflicht
       keine „unzulässige Einschränkung der Freiheit“ dar. Wer sich nicht gegen
       eine tödliche, ansteckende Krankheit mit einem effektiven Impfstoff impfen
       lässt, schadet ohne triftigen Grund den Menschen in seinem Umfeld.
       
       ## Prinzip der „sauberen Hände“
       
       Ein Einwand gegen die Anwendung des Schadensprinzips auf das Impfen könnte
       so lauten: „Von mir geht doch keine direkte Gefahr aus, ich stecke keinen
       an!“ Tatsächlich ist es so, dass ein Ungeimpfter nicht unbedingt großen
       Schaden anrichten wird. Er muss weder sich noch andere anstecken. Das
       Nicht-Impfen ist vielmehr eine kollektive schädliche Handlung.
       
       Der libertäre US-Philosoph [3][Jason Brennan argumentierte in einem 2019
       erschienenen Aufsatz], dass es unmoralisch sei, sich an solchen kollektiven
       Aktivitäten zu beteiligen, selbst wenn der Einzelne keinen Schaden
       anrichtet. Denn dadurch verletze der Einzelne das Prinzip der „sauberen
       Hände“ (clean hands principle).
       
       Angenommen, ein Rechtsradikaler, der sich an einem Anschlag auf ein
       Asylheim beteiligt, rechtfertige sich: „Ich habe zwar Steine geworfen, aber
       keiner wurde durch meine Steine verletzt.“ Wäre er moralisch gesehen
       unschuldig? Nein, denn er begeht Unrecht im Kollektiv. Er macht seine Hände
       schmutzig.
       
       Oder junge Leute, die mit 150 km/h durch die Innenstadt rasen, werden von
       der Polizei gestoppt und rechtfertigen sich so: „Wir haben doch keinen
       verletzt, das wollten wir auch gar nicht.“ In diesem Fall gäbe es keine
       Geschädigten, außerdem hätten sie im Gegensatz zu dem Rechtsradikalen nicht
       die Intention, andere zu verletzen – sie wollten nur ein bisschen
       „cruisen“. Warum sollten wir ihre Handlung trotzdem verwerflich finden?
       Weil sie ein hohes, nicht rechtfertigbares Risiko in Kauf nahmen, dass
       jemand großen Schaden erleidet.
       
       Wenn demzufolge Liberale anerkennen müssen, dass Impfverweigerer anderen
       schaden, dieser Schaden sehr groß und vermeidbar ist – dann müssen sie
       Brennans Konklusion teilen: Der Staat ist dazu berechtigt, den
       Impfverweigerern eine Impfung vorzuschreiben, also eine allgemeine
       Impfpflicht einzuführen.
       
       7 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Jacobson_v._Massachusetts
 (DIR) [2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6267229/
 (DIR) [3] https://jme.bmj.com/content/44/1/37
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charles Schildge
       
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