# taz.de -- Zwangsarbeit im Nationalsozialismus: Die Verletzlichkeit der Erinnerung
       
       > In dem Projekt „Missing Stories“ suchen Künstler:innen nach Narrativen
       > für Zwangsarbeiter aus dem Westbalkan. In Berlin endet die Ausstellung.
       
 (IMG) Bild: Aleksander Zograf, „Postcards from Bor“. Auf diesen Seiten wird Miklós Radnóti vorgestellt ​
       
       Miklós Radnóti war ein ungarischer Dichter und Übersetzer. Als sich Ungarn
       mit den deutschen Nationalsozialisten verbündet hatte, wurde er wegen
       seiner jüdischen Herkunft als Zwangsarbeiter in die Kupferminen von Bor, in
       Serbien, verschleppt. Was er und andere ungarische Juden in den
       Arbeitslagern erleiden mussten, schrieb er in ein Heft. Er schrieb weiter
       auf den quälenden Märschen Ende August 1944, als die Partisanen Titos sich
       den Lagern näherten und die Gefangenen zur österreichischen Grenze
       getrieben wurden. Das Heft war in seiner Tasche, als Miklós Radnóti starb.
       Es wurde bei der Exhumierung eines Massengrabs 1946 gefunden, mit
       Gedichten, die er „Postkarten aus Bor“ genannt hatte.
       
       Sie sind die Quelle für einen Comic, den [1][Aleksandar Zograf,
       Comiczeichner aus Serbien,] entwickelt hat. Es ist eine äußerst gedrängt
       erzählte Geschichte, der knappe Bildraum voll gepackt mit Informationen und
       Emotionen. Seit der Besetzung Jugoslawiens bezog Deutschland ein Viertel
       seines Kupferbedarfs aus Bor und schickte immer neue Zwangsarbeiter aus
       Italien, Griechenland oder Ungarn in die vierzig Arbeitslager nahe der
       Minen.
       
       Zograf zeichnet die Soldaten der Organisation Todt, die aus Angst, an die
       russische Front geschickt zu werden, so einer der Comictexte, die
       Gefangenen mit Schlägen zwangen, schneller zu arbeiten. In einem
       Bildfenster sieht man Miklós Radnóti auf seinen Knien in das Heft
       schreiben, auf dem letzten Bild sitzt er damit in einem Stall, einer
       Station auf dem Todesmarsch.
       
       „Er erschien mir so lebendig, fast, als hätte ich ihn persönlich
       getroffen“, schreibt Aleksandar Zograf über Miklós Radnóti im Katalog zur
       Ausstellung [2][„Missing Stories. Forced Labour under Nazi Occupation“].
       Für Zograf waren die Gedichte, die den Ermordeten überlebten, auch ein
       Beleg für die Kraft der Kunst, totalitären Regimen zu trotzen.
       
       ## 186 Stufen im Steinbruch
       
       Einen anderen Weg der Erinnerung haben Milica Milićević und Milan Bosnić
       vom serbischen Künstlerduo diSTRUKTURA für „Missing Stories“ gewählt.
       Ausgangspunkt war die Geschichte von Milans Großvater Vlada, der zwischen
       1942 und 1945 [3][in einem Arbeitslager in Mauthausen] war und in einem
       berüchtigten Steinbruch arbeiten musste. Der Großvater, sehr alt, erzählt
       davon in einem Dreikanal-Video; neben seinem Gesicht sieht man die
       Landschaft in Mauthausen heute, hört Vögel und Wind. diSTRUKTURA haben Zeit
       an diesem Ort verbracht, sie folgen den Spuren der Zwangsarbeit in
       Mauthausen, aber sie lassen sich auch auf die Gegenwart des Ortes ein,
       fragend, ob er noch ein Echo der Geschichte enthalte.
       
       In dem Steinbruch gibt es noch immer eine Treppe mit 186 Stufen, die die
       Zwangsarbeiter die Steine hochtragen mussten. Viele brachen dabei zusammen
       oder wurden in den Tod gestoßen. „He falls down and kapo kills him“,
       erinnert sich der Großvater, in der englischen Untertitelung. Von den
       Stufen dieser Treppe haben Milica Milićević und Milan Bosnić Frottagen
       abgenommen, 186 zarte Grafitzeichnungen, die jetzt wie zu einer Pyramide
       übereinandergestapelt in Berlin in der Galerie des Willy-Brandt-Hauses
       hängen.
       
       Die Ausstellung „Missing Stories. Forced Labour under Nazi Occupation. An
       Artistic Approach“ hat hier ihre letzte Station, nachdem sie zuvor durch
       Belgrad, Novi Sad, Tirana, Podgorica und Augsburg getourt ist. Ihren
       Ausgangspunkt nahm sie durch eine Recherche nach vergessenen Opfern des
       Nazi-Regimes, welche die [4][Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft
       (EVZ)] im Jahr 2017 angeregt hatte.
       
       Frank Baumann, damals Leiter des [5][Goethe-Instituts] in Belgrad, griff
       den Impuls der EVZ-Stiftung auf. Denn ihm war in vielen Gesprächen bewusst
       geworden, wie sich das Leiden unter dem Nationalsozialismus in viele
       Familiengeschichten eingeschrieben hatte, aber dennoch kaum Teil der
       offiziellen Geschichtsschreibung im ehemaligen Jugoslawien geworden war.
       
       ## Ansatz im Biografischen
       
       So entstand in Zusammenarbeit mit mehreren Kuratoren das Konzept der
       Ausstellung. Die Geschichte der 200.000 Zwangsarbeiter aus dem Balkan, die
       1944 für das Deutsche Reich arbeiteten, ist kaum dokumentiert und oft nur
       in den privaten Erinnerungen verankert. Diesem Gegensatz spürt die
       Ausstellung nach und setzt beim Biografischen an.
       
       Die Künstler:innen kommen fast alle aus der Generation der Enkel. Sie
       alle haben für ihre Annäherung an das Thema recherchiert, aber sie wählen
       weder den dokumentarischen Weg noch statische Formen des Gedenkens. Sie
       thematisieren in ihren Arbeiten die Erinnerung ebenso wie deren Auslöschung
       durch Schweigen, das Fehlen von Geschichten, die Lücken in der Herkunft,
       das Überschreiben des nicht mehr rekonstruierbaren Geschehens durch Mythen.
       
       So kommt es, dass das Sichtbare und das Hörbare in den Installationen oft
       voneinander abweichen. Etwa in „Wavelengths“, einem Video von Remijon
       Pronja aus Albanien. [6][Albanien war zuerst von italienischen Faschisten
       besetzt, dann von deutschen Nazis]. Pronja beschäftigt sich mit der
       Geschichte von Abedin Beqir Destani, ausgebildeter Elektriker und Partisan,
       der in ein Konzentrationslager in Österreich kam. Dank seiner geschickten
       Arbeit als Elektriker überlebte er.
       
       Im Bild sieht man Leuchtröhren und Hände, die daran arbeiten. Zu hören ist
       derweil ein Interview mit Destanis Sohn und Enkel, die sich in
       Bruchstücken, die nicht immer widerspruchsfrei zusammenpassen, an das
       Schicksal des Großvaters erinnern. Er ist für sie ein Held, von dessen
       Geschichte jeder in der Familie eine andere Version hat.
       
       ## Die Lücke in der Familiengeschichte
       
       Mit dem Fehlen einer Familiengeschichte, mit dem Verlust von Heimat, gleich
       mehrfach, beschäftigt sich Dragan Vojvodić. Seine Installation mit dem
       Titel „History repeats itself“ wirkt zunächst abstrakt. Leuchtstoffröhren
       liegen in zwei nebeneinander stehenden Metallregalen, sie gehen an und aus,
       manchmal in einem simultanen Rhythmus, meist versetzt. Etwas von Unruhe und
       etwas von Leere liegt darin.
       
       Im Text dazu, kurz, wie hier fast alle Ausstellungstexte, geht er auf
       seinen Großvater ein, der als Zwangsarbeiter die Heimat verlassen musste
       und zieht eine Linie zu seiner eigenen Geschichte, als Bosnier wurde er
       vertrieben. Kriege und Vertreibung haben seine Familie immer wieder
       getroffen, sie lasteten auf seiner Kindheit. Die kalte und technische
       Atmosphäre seiner Installation markiert diesen Raum der Leere.
       
       Die Werke in der Ausstellung „Missing Stories“ sind weit entfernt vom
       Gedenken in Form von Denkmälern. Sie folgen dem Leiserwerden von Stimmen,
       der Entfernung von der Geschichte und lassen sich auf den Abstand ein, den
       es zu überbrücken gilt, wenn man die Erinnerung an die Zwangsarbeit und die
       Vernichtung von Leben in den Lagern weiter in die Gegenwart tragen will. Es
       braucht da oft mehrere Ebenen der Vermittlung und der Übersetzung und es
       bleibt ein unerzählbarer Rest, auch das machen die Arbeiten deutlich.
       
       ## Das Mitgefühl eines Wachhunds
       
       Das passiert in der Sound- und Materialcollage „Exit“ von Lenka Đorojević
       aus Montenegro. Aus Platten ist eine geschichtete, fragmentierte Ebene
       aufgebaut, in die Lautsprecher und einzelne Objekte eingelassen sind, ein
       Metallstück, ein Zementbrocken, ein Mercedesstern, ein Heft mit Abbildungen
       von NS-Propagandabildern zu Arbeitslagern.
       
       Man hört eine Stimme in langsamen Sätzen und kann auf einem Display die
       englische Übersetzung mitlesen: Wie eine junge Frau, die vor aggressiven
       Wachhunden in einem KZ flieht, dabei von der Erinnerung an ihren Hund zu
       Hause übermannt wird. Und der Hund, der sie verfolgt, hält plötzlich inne,
       als würde er diesen Moment der Erinnerung und Menschlichkeit teilen. Weil
       er den Befehl, sie zu töten, verweigert, wird er erschossen.
       
       Man liest die Zeilen zunehmend gebannt, kann sich dem Sog der Stimme kaum
       entziehen und starrt auf die rätselhaften Artefakte. Die Geschichte geht
       auf ein Zeugnis von Hasena Sulojdžić-Terzić aus Montenegro zurück, die nach
       Ludwigsfelde nördlich von Berlin verschleppt wurde und in einer
       unterirdischen Flugzeugfabrik, die Daimler-Benz gehörte, arbeiten musste.
       Die Erzählung, aufgeschrieben von Radovan Vujadinović, ist literarisch
       gefasst; Angst, Todesangst und Grausamkeit werden in eine ruhige Melodie
       übersetzt. Schmerz verändert sich beim Fluss durch die Zeit. Auch davon
       handeln die Arbeiten.
       
       1 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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