# taz.de -- Wahl in Ungarn: Putin ist Orbáns Spiegelbild
       
       > Am 3. April wird in Ungarn gewählt. Wie sich der Ukrainekrieg auf die
       > Chancen des Putinverstehers Victor Orbán auswirkt, ist ungewiss.
       
 (IMG) Bild: Sie flüchtete mit ihrem Kind aus der Ukraine und ist in einem Hostel in Budapest untergebracht
       
       Vor einem Gebäude im Budapester Bezirk Angyalföld stehen Autos mit
       ukrainischen Nummernschildern. Drinnen im Gebäude herrscht hektische
       Geschäftigkeit. Freiwillige der Organisation [1][Migration Aid] mit gelben
       Warnwesten und handgeschriebenen Namensschildern nehmen Daten von
       Ankommenden auf, weisen ihnen Zimmer zu, verteilen Getränke und
       Nahrungsmittel.
       
       Der Krieg in der Ukraine ist in Ungarn angekommen. Zwischen 300.000 und
       400.000 ukrainische Flüchtlinge sind offiziell registriert. Wie viele davon
       noch im Land sind, weiß niemand. Auch Andreas Siewert nicht, Gründer und
       Leiter der Nichtregierungsorganisation Migration Aid. Die Unterkunft mit
       300 Betten, die er angemietet hat, wird von den meisten nur als
       Zwischenstation genutzt: „Ein bis vier Tage, zur Erholung nach der Flucht.“
       Dann reisen sie weiter nach Westen. Solche, die länger in Ungarn bleiben
       wollen, werden in die Stadt Györ, nahe der österreichischen Grenze,
       geschickt. Dort gibt es bessere Bedingungen und psychologische Betreuung
       für Traumatisierte.
       
       Noch vor wenigen Wochen war Migration Aid von der Regierung als
       [2][feindliche Organisation] betrachtet worden. Ein Gesetz belegte Spenden,
       die für die Flüchtlingshilfe verwendet werden, mit einer Steuer in Höhe von
       85 Prozent. Fast über Nacht hat sich der Diskurs gewandelt. Die Regierung
       spreche nicht mehr von „Wirtschaftsmigranten“, wie während der
       Flüchtlingskrise 2015, sondern von „Flüchtlingen“, sagt Siewert. Vor
       wenigen Tagen hörte er staunend, wie ein Staatssekretär die Arbeit seiner
       Organisation lobte. „Ohne Migration Aid und die Zivilgesellschaft wäre die
       Regierung aufgeschmissen“, so Siewert, der gebürtiger Berliner ist, seit
       der Kindheit aber in Ungarn lebt.
       
       Premier Viktor Orbán ist durch den russischen Angriffskrieg auf das
       Nachbarland [3][in eine Zwickmühle geraten]. In der Europäischen Union ist
       Orbán Putins bester Freund. „Noch wenige Tage vor dem Einfall in die
       Ukraine war er in Moskau und hat fünf Stunden mit Putin gesprochen.
       Offiziell über den Gaspreis“, sagt Historiker Krisztián Ungváry. Er kann
       sich nicht vorstellen, dass der bevorstehende Krieg kein Thema war.
       
       Kein Land in Europa ist stärker von russischem Gas abhängig als Ungarn. Der
       oppositionelle EU-Abgeordnete Benedek Jávor schätzt den Anteil auf 86
       Prozent. Ein Drittel der Energiegewinnung Ungarns basiert auf Erdgas. Eine
       russische Bank finanziert einen Kredit über 10 Milliarden Euro für den Bau
       eines zweiten AKW in Paks durch einen russischen Konzern.
       
       Eine besondere Rolle wird der International Investment Bank (IIB)
       zugeschrieben. Das einst als multilaterales Geldinstitut des
       sozialistischen Wirtschaftsbundes Comecon gegründete Bankhaus übersiedelte
       2019 von Moskau nach Budapest und genießt da diplomatischen Status.
       Tschechien und Rumänien haben ihre Anteile an der Bank nach dem Einmarsch
       in die Ukraine bereits abgegeben. Die Opposition fordert dies auch von
       Ungarn. „Es gibt keinen Grund, warum wir ein Spionagenetzwerk, das mit
       KGB-Methoden operiert und sich als Bank ausgibt, aufrechterhalten sollten“,
       sagte Antal Csárdi, ein Abgeordneter der Grünen LMP vor wenigen Tagen bei
       einer Pressekonferenz. Die Bank soll Russland zudem zur Umgehung der
       EU-Sanktionen für das russische Finanzsystem dienen.
       
       Auch die Medienberichterstattung zeigt, wo Orbán steht. Wer sie in den
       letzten Wochen verfolgt hat, fand sich der russischen Regierungspropaganda
       ausgesetzt. Schuld am Konflikt sei die Ukraine, wird suggeriert. Ein
       staatsnaher Sender bezichtigte Sympathisanten der Ukraine sogar als
       „Vaterlandsverräter“.
       
       In der Provinz, wo die Menschen kaum mehr Zugang zu unabhängigen Medien
       haben, zweifelt so gut wie niemand an den zwingenden Gründen Russlands für
       den Krieg. Andersdenkende werden zum Schweigen gebracht. Péter Nemeth,
       Mitglied der Regierungspartei Fidesz und Vorsitzender des Außenpolitischen
       Ausschusses im Parlament, forderte auf Facebook „Russen, geht heim!“ und
       „Frieden“. Fast 5.000 Fidesz-Fans überzogen ihn mit einem Shitstorm.
       
       ## Rechtsextreme wollen die Karpatenukraine
       
       Rechtsextreme Kreise ventilierten gar die Möglichkeit, dass bei einem
       Zerfall des Nachbarlandes die Karpatenukraine, die eine Zeit lang zu
       Ungarn gehört hatte, wieder ins Staatsgebiet eingegliedert werden könnte.
       
       Orbán selbst laviert herum. Umfragen zeigen, dass ein Viertel seiner
       Wählerschaft aus Putin-Verehrern besteht, gleichzeitig sympathisieren aber
       mindestens 46 Prozent mit der Ukraine. Die verunsichert er, indem er der
       klar auf Seiten der Ukraine positionierten Opposition vorwirft, das Land in
       den Krieg führen zu wollen. Gleichzeitig versucht er, seine Freundschaft
       mit Putin kleinzureden. Die EU-Sanktionen gegen Russland hat Orbán nolens
       volens mitgetragen, Sanktionen gegen den Energiesektor seien aber eine rote
       Linie, deren Überschreitung er mit einem Veto verhindern werde.
       
       Der Krieg hat jedenfalls den Wahlkampf für die Parlamentswahlen am 3. April
       gehörig durcheinandergewirbelt. Das Thema Korruption, für das das
       Oppositionsbündnis wochenlang getrommelt hat, sei fast völlig verdrängt
       worden, klagt Gabriella Nagy von der ungarischen Sektion von Transparency
       International. Korruption ist für Viktor Orbán ein besonders wunder Punkt.
       „Wir sehen, dass die öffentlichen Verträge mit Russland und China extrem
       überteuert sind“, sagt Nagy: „Ungarn befolgt keine der EU-Regeln für
       öffentliche Ausschreibungen.“
       
       Mehrmals wurde Ungarn bereits von der europäischen Betrugsbehörde OLAF
       gerügt. Die hat zwar reichlich Material gesammelt, kann aber selbst in den
       Mitgliedsstaaten nicht tätig werden, sondern übergibt ihre Erkenntnisse der
       nationalen Staatsanwaltschaft. Dort ist dann in Ungarn Endstation. Orbán
       hat mit Péter Polt einen zuverlässigen Mann als Generalstaatsanwalt
       eingesetzt, dessen Aufgabe es zu sein scheint, heikle Verfahren gegen
       regierungsnahe Unternehmen und Personen niederzuschlagen.
       
       ## Ein eigenes Programm von Fidesz sucht man vergeblich
       
       Erstmals seit Orbán regiert, ist der Wahlausgang jedenfalls ungewiss. Sechs
       der wichtigsten Oppositionsparteien – von Sozialdemokraten bis zur ehemals
       rechtsextremen Jobbik – haben eine Allianz geschlossen und einen
       gemeinsamen Spitzenkandidaten aufgestellt. Der Ökonom Péter Márky-Zay, der
       seit vier Jahren als Bürgermeister die südungarische Stadt Hódmezővásárhely
       regiert, konnte sich im vergangenen Oktober in Vorwahlen durchsetzen. Der
       Katholik und Vater von sieben Kindern ist konservativ genug, um
       Wechselwähler, die der autoritären Führung von Orbán müde sind, aber keinen
       Linksruck wünschen, zu überzeugen. Deswegen zielt die Kampagne der
       Regierung darauf ab, ihn zu diskreditieren und als Marionette des
       ehemaligen sozialdemokratischen Premiers Ferenc Gyurcsány darzustellen.
       
       Ein eigenes Programm sucht man im Wahlkampf von Fidesz vergebens. Alles ist
       auf die Verunglimpfung der Opposition ausgerichtet. Orbáns einziger Slogan
       lautet: „Wir schreiten voran, nicht zurück.“ Fernsehdebatten mit dem
       Oppositionskandidaten verweigert sich Orbán. In der fast flächendeckend
       kontrollierten Medienlandschaft kommt die Opposition meist nur in
       karikaturesker Weise vor. Zuverlässige Umfragen gibt es kaum.
       
       Auf einen Höhenflug der Opposition nach der erfolgreichen Einigung
       reagierte Orbán mit dem Öffnen des Geldsäckels. Rentner bekommen eine 13.
       Zahlung, Familien werden steuerlich entlastet, Arbeitnehmer unter 25 müssen
       gar keine Einkommensteuer mehr zahlen. Dazu kommen Sonderzahlungen für
       Polizei und Militärs.
       
       Ob der Krieg in der Ukraine Orbán als Putin-Freund schadet oder der
       Regierung hilft, weil in Krisenzeiten eher das Bekannte als das Unsichere
       gewählt wird, ist schwer zu beurteilen. Orbán hat in seinen zwölf
       Regierungsjahren das Wahlgesetz über 300-mal geändert, hat der Historiker
       Ungváry nachgezählt: „Er hat sich das Gesetz maßgeschneidert.“ So kann man
       mit weniger als 50 Prozent der Stimmen zwei Drittel der Abgeordneten
       gewinnen. Die Schwankungsbreite der Umfragen, die der Regierung einen
       knappen Vorsprung attestieren, ist enorm. Der EU-Abgeordnete Benedek Javor
       wagt daher keine Prognose: „Von einer Zweidrittelmehrheit für Fidesz bis zu
       einem größeren Erfolg der Opposition ist alles möglich.“
       
       27 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://migrationaid.org/
 (DIR) [2] /Kommentar-Ungarns-Anti-NGO-Gesetz/!5514976
 (DIR) [3] /Buch-ueber-Ungarn-Europa-und-Russland/!5839872
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Leonhard
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Viktor Orbán
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Flüchtlingspolitik
 (DIR) Menschenrechte
 (DIR) Meinungsfreiheit
 (DIR) GNS
 (DIR) Embargo
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Polen
 (DIR) Autokratie
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) EU-Ölembargo gegen Russland: Victor Orbáns neue Veto-Keule
       
       Hatte Ungarn die ersten EU-Sanktionspakete gegen Moskau mitgetragen,
       verhält es sich bei Ölimporten anders. Grund sind Profite im
       Raffineriegeschäft.
       
 (DIR) EU und die Parlamentswahl in Ungarn: Eisiges Schweigen
       
       Statt Premier Orbán zum Sieg zu gratulieren, will Brüssel Ungarn jetzt doch
       die Mittel kappen. Dafür soll der Rechtsstaatsmechanismus genutzt werden.
       
 (DIR) Parlamentswahl in Ungarn: Frei, aber nicht fair
       
       Viktor Orbáns Sieg ist ein Rückschlag für Ungarns Demokratie. Auch für
       Europa ist er eine schlechte Nachricht – denn die Attacken aus Budapest
       werden weitergehen.
       
 (DIR) Ausgang der Parlamentswahl in Ungarn: Wahlsieg für Orbán
       
       Ungarns rechtsnationaler Regierungschef erringt bei der Wahl erneut eine
       Zweidrittelmehrheit. Die Opposition fährt eine verheerende Niederlage ein.
       
 (DIR) Wahlen in Ungarn: Fußballmatch auf abschüssigem Feld
       
       Ungarns Premier Viktor Orbán beeinflusst Justiz und Presse. Zu den Wahlen
       am Sonntag schickt die OSZE erstmals in der EU eine große
       Beobachtermission.
       
 (DIR) Flucht mit dem Berlin-Warschau-Express: Der Zug der Frauen
       
       Von Kiew über Warschau nach Berlin fliehen Tausende aus der Ukraine.
       Deutsche und polnische Freiwillige helfen den Flüchtenden gemeinsam.
       
 (DIR) Buch über Ungarn, Europa und Russland: „Bis gerade eben an Putins Seite“
       
       Seit dem Ukraine-Krieg zeigt sich Viktor Orbán der EU gegenüber
       konsensfähig. Lacy Kornitzer über den Zustand Ungarns vor den Wahlen.
       
 (DIR) EU-Verteilung ukrainischer Geflüchteter: Vor dem Exodus
       
       Die Fluchtbewegung aus der Ukraine hat längst begonnen. Doch Europa muss
       sich nun auf Millionen weitere Menschen vorbereiten.
       
 (DIR) Westeuropa und seine Grenzen: Ein widersprüchliches Selbstbild
       
       Europa unterscheidet in gute und böse Geflüchtete. Wäre der Kontinent so
       zivilisiert, wie man hier gerne behauptet, so wären alle gleichzubehandeln.