# taz.de -- Fake News und Antisemitismus: Die Geschichte des Simon von Trient
       
       > Wie christliche Fanatiker Mythen über von Juden begangene Kinds- und
       > Ritualmorde erfanden. Und diese alljährlich über Ostern zelebrierten.
       
 (IMG) Bild: Der von Juden angeblich begangene Ritualmord dargestellt von Bildschnitzer Daniel Mauch, um 1510
       
       Trient ist genau das, was man gewöhnlich als „ein nettes Städtchen“
       bezeichnet. Viele Häuser sind mit bunten Fresken dekoriert, die Berge
       erheben sich drumherum, der geräumige Domplatz ist durchaus einen Besuch
       wert. Viele Deutsche kennen den Ort deshalb, weil sie auf dem Weg zum
       Gardasee hier durchkommen. Oder weil sie sich aus den Geschichtsbüchern an
       das Konzil von Trient erinnern. Jenes Konzil im 16. Jahrhundert, mit dem
       die katholische Kirche auf die Reformation reagierte.
       
       Heute halten die Touristen gerne für einen Spaziergang samt Eis oder Aperol
       Spritz an. Früher suchten die Besucher die Peter-und-Paul-Kirche auf, wo
       die Überreste des Simon aufbewahrt wurden. Immer noch gibt es in Trient
       eine Straße, die an dieses Kind Simon erinnert. Die Berühmtheit Simons geht
       allerdings auf eine antijüdische Legende zurück, wonach Simon von Juden in
       einem Ritualmord getötet worden sei.
       
       Die Geschichte dieses Simonino, wie er auf Italienisch genannt wird, ist
       einer der eklatantesten Fälle von antijüdischer Hetze des ausgehenden
       Mittelalters – einer Hetze, die sich schnell sehr wirkmächtig europaweit
       ausbreiten sollte. Vom ganzen Kontinent kamen Menschen in die kleine
       norditalienische Alpenstadt, um dem wundersamen Märtyrer zu huldigen.
       
       Sie brachten Votivgaben und Geld mit, waren neugierig oder hofften auf
       Heilung von Krankheiten. Die Geschichte des Simon ist aber nicht nur eine
       Geschichte des christlichen Antijudaismus. Sie zeigt auch beispielhaft, wie
       Fake News entstehen und sich durchsetzen können.
       
       ## Am Ostersonntag 1475
       
       Die Erzählung beginnt 1475, in der für Christen heiligsten Zeit des Jahres.
       Der zweieinhalbjährige Simon verschwindet in der Karwoche spurlos. Erst
       drei Tage später, am Ostersonntag, wird seine Leiche in einem Bach
       gefunden. Wie starb er? „Die genaue Todesursache ist damals
       offengeblieben“, sagt Domizio Cattoi. Er war Co-Kurator einer Ausstellung
       für des Diözesanmuseum von Trient vor zwei Jahren zu dem Fall.
       
       Es hat vor zwei Jahren dem Fall eine Ausstellung gewidmet. Es sei von heute
       aus unmöglich, nachträglich die genaue Todesursache festzustellen.
       Wahrscheinlich sei aber, dass die vielen Wunden an seinem Körper damals von
       Ratten oder anderen Tieren verursacht wurden, nachdem das Kind ertrunken
       war.
       
       Für den Tod des Kindes wurde zu Ostern 1475 schnell die jüdische Gemeinde
       der Stadt, die damals aus dreißig Menschen bestand, verantwortlich gemacht.
       Ein Schauprozess und unter Folter erpresste Aussagen sollten bestätigen,
       was schon vorher feststand: Juden hätten hier einen Ritualmord begangen.
       
       Die Hälfte der Juden aus Trient wurde zum Tode verurteilt, Frauen und
       Kinder konnten zwangskonvertieren. Die kleine jüdische Gemeinde wurde
       ausgelöscht und verschwand aus dem Stadtbild.
       
       ## Märtyrer Wilhelm
       
       Ritualmordbehauptungen sind eine Konstante des christlichen Antijudaismus.
       Zumindest seit dem Jahr 1144, als Juden in England beschuldigt wurden, den
       zwölfjährigen William von Norwich ermordet zu haben. Legenden – nach denen
       Juden in der Karwoche christliche Jungs entführten, um ihr Blut zu trinken
       und finstere Bräuche pflegten – existierten wohl schon früher, aber erst
       das Abfassen einer Geschichte über den Märtyrer Wilhelm führte zu einem
       epidemischen Phänomen.
       
       In wenigen Jahrzehnten häuften sich in England die Fälle. Die Erzählungen
       der Mönche und Chroniken sorgten für eine entsprechende Verbreitung auch
       auf dem Kontinent. Es folgten etliche Judenpogrome, wie zum Beispiel im
       hessischen Fulda. Was den norditalienischen Fall aus Trient so besonders
       macht, ist nicht die Legende an sich, sondern die Tatsache, dass er mit der
       Erfindung der Druckerpresse einhergeht.
       
       Cattoi vom Diözesanmuseum sagt, dass hier die Druckpresse für eine
       Schmähkampagne im modernsten Sinne des Wortes genutzt wurde. Simon wurde so
       zum vielfach vervielfältigten Symbol des christlichen Antisemitismus.
       
       Der Mann hinter dieser Kampagne hieß Johannes Hinderbach. Er war nichts
       weniger als der damalige Fürstbischof von Trient. Warum agierte er so? Der
       Antijudaismus war die eine Sache, Historiker Cattoi betont aber auch, dass
       es dem Fürstbischof persönliches Prestige und ökonomische Vorteile
       verschaffte. Es konnte nicht schaden, dass die Diözese nun einen Märtyrer
       vorzuweisen hatte.
       
       Massive Kampagne 
       
       Hinderbach setzte eine massive Kampagne in Gang. Per Flugschriften
       verbreitete er Pamphlete in italienischer und deutscher Sprache, suggestive
       Bilder und Darstellungen vom angeblichen Kindsmord erreichten auch die
       Analphabeten. Die Holzschnitte wurden von den Wallfahrern, die die Stadt
       besuchten, in ganz Europa verbreitet.
       
       Mit großem Erfolg: Denn obwohl der Papst und der Regent von Oberösterreich
       sich zunächst gegen den Kult ausgesprochen hatten, wurde er hundert Jahre
       später von der Kirche zugelassen. Er hatte sich de facto bereits
       durchgesetzt. Was einiges über die Suggestivkraft von Verschwörungsmythen
       aussagt. Um so öfters behauptet, als um so wahrer werden sie von vielen
       empfunden. Und sind nur schwer aus den Köpfen der Menschen zu bekommen.
       
       So zog sich der Mythos um den Tod des Simon durch die Jahrhunderte. Mal
       wurde so die Grausamkeit der Juden betont, mal die Wundertätigkeit des
       Kindes, je nach Epoche und „Bedürfnis“. Einen neuerlichen Aufschwung nahm
       sie im 19. und 20. Jahrhundert. [1][Die moderne antisemitische Propaganda
       hetzte] nun nicht mehr „nur“ gegen die Juden als Religionsgemeinschaft,
       sondern suchte sie im biologischen Sinne als Volk zu diffamieren.
       
       Erst 1965 wurde der Kult von der Kirche endgültig verworfen. Was ihn nicht
       daran hinderte, weiterhin zu existieren. Bis heute, sei das so, sagt der
       Historiker Gadi Luzzatto Voghera, Direktor des Dokumentationszentrums für
       jüdische Zeitgeschichte in Mailand. So werde in rechtsextremistischen und
       christlich-fundamentalistischen Kreisen in der Osterzeit weiterhin an den
       kleinen Simon erinnert.
       
       Fünf Jahrhunderte später 
       
       Nachdem der Kult untersagt wurde, wurde auch der Bann des Rabbinerrats über
       Trient aufgehoben. Infolge von Hetze und Verfolgung hatte die jüdische
       Gemeinde Trient zur verbotenen Stadt erklärt. Fünf Jahrhunderte später
       konnte damit die Auseinandersetzung offiziell als beendet gelten. Doch auch
       wenn [2][die meisten Menschen in Europa] den Fall des Simon inzwischen
       nicht mehr kennen, so Luzzatto Voghera, blieben Aspekte der
       Ritualmordlegenden erhalten.
       
       Das Motiv des „Juden als Kindermörder“ tauche auch immer wieder [3][in
       Verbindung mit dem Nahostkonflikt] auf. Oder auch der Vampirismus. „Es gibt
       immer noch das Bild, dass der Jude das Geld sauge, so wie er im Mittelalter
       das Blut gesaugt haben soll“, sagt der Historiker.
       
       Die jüdische Gemeinde in Italien ist heute sehr klein. Etwa 30.000 Menschen
       gehören laut Schätzungen dazu. Der Antisemitismus ist trotzdem ein
       verbreitetes Phänomen. Er ist unabhängig von der Präsenz oder dem Verhalten
       realer jüdischer Menschen.
       
       „In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle in
       Italien dramatisch angestiegen“, sagt Luzzatto Voghera. Um so wichtiger ist
       es, über die Konstruktion historischer Mythen wie die des Simon von Trient
       aufzuklären.
       
       9 Apr 2022
       
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