# taz.de -- Inklusives Theater in Uruguay: Tanzlastige Informance
       
       > In Montevideo fand das erste Inklusionsfestival für performative Künste
       > Uruguays statt. Bewerbungen gab es aus aller Welt.
       
 (IMG) Bild: „El hilo rojo“ (Der rote Faden) – Nicole Viera im Duett
       
       Sin Límites – ohne Limits hieß die Vorgabe für Uruguays erstes inklusives
       und barrierefreies Musik-, Theater- und Tanzfestival. Das Besondere: Auf
       der Bühne standen Künstler*innen mit und ohne Behinderung. An den neun
       Spektakeln beteiligten sich 132 Artist*innen, unter ihnen 42 mit
       unterschiedlichen Behinderungen.
       
       Das Festival Internacional de Artes Escénicas Inclusivas war das erste
       seiner Art in Südamerika und soll zukünftig alle zwei Jahre stattfinden.
       Und Montevideo ist kein Zufall. Zahlreiche Behindertenorganisationen
       leisten seit vielen Jahren engagierte Arbeit und die politischen
       Institutionen waren bereit mitzuziehen.
       
       Im Alltagsleben liegt dennoch vieles im Argen. So ist der öffentliche
       Nahverkehr wenig behindertengerecht eingerichtet.
       Rollstuhlfahrer*innen sind im Stadtbild wegen der holprigen Wege nur
       selten zu sehen.
       
       Zentraler Spielort war das Ballett- und Tanztheater Sodre in Montevideo,
       das eigens barrierefrei umgerüstet worden war. Inklusion galt vor, auf und
       hinter der Bühne. Ohne Limits meinte denn auch mehr als barrierefrei in den
       Saal oder auf die Bühne zu gelangen.
       
       Wer nach dem Programmheft griff, fühlte die Blindenschrift. Für alle
       sehbeeinträchtigten Personen standen Audiodeskriptionen zur Verfügung. Wo
       Übersetzungen in Gebärdensprache nicht möglich waren, half ein
       Verständigungssystem für Personen mit eingeschränktem Hörvermögen.
       
       ## Tanz mit Rollstuhl
       
       Den Auftakt machte „En mis Zapatos“ (In meinen Schuhen). Ein Tanzspektakel
       dreier Künstlerinnen – eine im Rollstuhl, eine mit Gehstützen und eine ohne
       Behinderung –, die das Bewegungsvermögen ihrer Körper einzeln, zu zweit und
       im Trio ausloteten. Es folgte „El hilo rojo“ (Der rote Faden), eine
       zeitgenössische Ballettaufführung mit fünf Mitgliedern des Ballettensembles
       des Sodre und fünf Tänzer*innen mit Behinderungen.
       
       Mit ihren sicheren Bewegungen beeindruckte die von Geburt an blinde Nicole
       Viera. „Ballett hilft nicht nur bei der Körperhaltung und dem
       Gleichgewicht, sondern auch beim simplen Laufen auf den kaputten Gehwegen
       von Montevideo“, lacht sie. Von 30 behinderten Bewerber*innen war sie
       eine der fünf Ausgewählten für „El hilo rojo“, der ersten inklusiven
       Ballettaufführung am Sodre.
       
       Was folgte, waren täglich drei Stunden Probe. „Wir haben gelernt, gemeinsam
       zu arbeiten, uns zu begleiten, uns etwas beizubringen, uns auch zu mäßigen,
       Unterschiede zu respektieren und einfach unterschiedliche Dinge zu tun“,
       schildert die 20-Jährige ihre Erfahrungen.
       
       Mit sechs hatte sie ihre Leidenschaft für das Ballett entdeckt, aber auch
       die Angst, als Blinde mit Sehenden zu tanzen. Mit zehn traute sie sich, in
       einem Folkloreensemble mitzumachen. Schließlich wagte sie den Sprung ins
       Ballett. Hier dominiere die Hegemonie des perfekten Körpers: Schlank und
       mit perfekter Fußdrehung, so Viera. Diese Hegemonie schließe aus und nicht
       ein. „Bei ‚El hilo rojo‘ wird das aufgebrochen“, sagt sie.
       
       ## Gott ist eine behinderte Frau
       
       In der Komödie „Castigo del cielo“ (Strafe des Himmels) kommt ein Toter in
       den Himmel. Überrascht stellt er fest, dass Gott eine junge und behinderte
       Frau ist. Der Himmelseintritt wird zur Begegnung mit den eigenen
       Vorurteilen und dem eigenen Verhalten gegenüber dem Anderen. Zugleich ist
       „Castigo del cielo“ eine Reise durch das Leben [1][des britischen
       Mediziners John Langdon Down, der das Syndrom umschrieb, das seinen Namen
       trägt.] 
       
       Schauspieler*innen mit dem Down-Syndrom standen auch bei „Sin Par“
       (Unvergleichlich) auf der Bühne. Bei den Tanz- und Theaterszenen des aus
       Spanien angereisten Ensembles geht es um Ausdrucks- und Körpersprache in
       unterschiedlichen Kontexten.
       
       Ausgewählt wurden die neun Spektakel unter der Vorgabe der Inklusion
       behinderter Protagonist*innen sowie rein praktischen Aspekten ihrer
       Realisierung. Dass das Programm etwas tanzlastig war, lag nicht am
       Spielort, sondern an der enormen Anzahl an Bewerbungen von Projekten aus
       diesem Spektrum. Bei freiem Eintritt waren alle Events rasch ausgebucht.
       
       Inklusion auch bei den Workshops. Zweiundzwanzig Personen verteilen sich im
       Raum, eine sitzt im Rollstuhl. Alito Alessi holt sich einen Stuhl und setzt
       sich dazu. „Säße nur eine Person auf einen Stuhl, wäre sie isoliert“, sagt
       er. Es ist die erste Lektion im Workshop „[2][DanceAbility“, der so heißt
       wie die Methode, die der US-Amerikaner entwickelt hat.] Die Auflösung der
       Isolation ist Inklusion.
       
       ## Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden
       
       „Einige Schulen wollen nur mit den fittesten Behinderten arbeiten.“ Dort
       gehe es um das Geschick und Können des Einzelnen. Das sei auch wertvoll und
       interessant, aber Alessis Interesse geht in eine andere Richtung. „Bei
       jeder Person gilt es, vier Grundmerkmale zu erkennen“, sagt er. Kann sie
       etwas sehen, kann sie ihren Körper von einer Stelle zu einer anderen
       bewegen, versteht sie das Ursache-Wirkung-Prinzip und reagiert sie auf die
       Welt um sie herum.
       
       So erfahre er den kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gruppe und weiß, was
       alle können. „Es geht darum, Menschen mit und ohne Behinderung durch Tanz
       und Bewegung zu verbinden.“ Am Ende präsentierte sich die Gruppe auf der
       Plaza Independencia im Zentrum von Montevideo mit einer Informance – einem
       Mix aus Information und Performance.
       
       Das Festival hat die Behindertenorganisationen untereinander und mit
       anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen enger verbunden. Unterstützt wurden
       sie vom Netzwerk der Kulturorganisationen der EU-Mitgliedsländer Eunic,
       darunter das Goethe-Institut in Montevideo. Das Abschlussresümee zog
       Sodre-Intendant Martín Inthamoussú: „Wir haben noch viel zu verbessern,
       aber wir sind weiter als vor dem Festival.“
       
       26 Apr 2022
       
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 (DIR) Jürgen Vogt
       
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