# taz.de -- Narrativ der verfolgten Russen: Sich als Opfer sehen
       
       > „Der Russe ist nun wie ein Jude im Berlin des Jahres 1940“, singt die
       > Band Leningrad. Die Selbststilisierung als Verfolgte befeuert Putins
       > Narrativ.
       
 (IMG) Bild: Prorussischer Autokorso in Berlin vom 3. April 2022. Es gab weitere in anderen deutschen Städten
       
       Das Video erscheint am 10. März, am fünfzehnten Kriegstag. Es heißt „Kein
       Zutritt“ und stammt von der noch Ende der 1990er Jahre in Sankt Petersburg
       entstandenen [1][Skacore-Band Leningrad]. Lange Zeit galt Leningrad als
       unangepasst und sogar kritisch. Nun hat die „patriotische Welle“ auch diese
       Kultband erreicht. Sie singt von einem Völkermord, der sich angeblich
       anbahnt: von einem Völkermord an Russen in Europa.
       
       „Der Russe ist nun wie ein Jude im Berlin des Jahres 1940“, brüllt der
       extravagante Leningrad-Sänger Sergei Schnurow und spielt dabei
       offensichtlich auf die Judendeportationen aus der Reichshauptstadt an, die
       1941 begonnen hatten: In Europa behandle man heute die Russen wie Hunde;
       sie seien Menschen zweiter Klasse.
       
       Bald müssten sie möglicherweise spezielle Abzeichen tragen. Und am liebsten
       würden die Europäer sie verbrennen. Um den Vergleich mit jüdischen Menschen
       im Nationalsozialismus zu verstärken, lässt Schnurow in seinem Video zwei
       junge Männer in traditioneller russischer Tracht mit blauen „Judensternen“
       auftreten – passend zur russischen Trikolore.
       
       ## Infamer Song in Kriegszeiten
       
       In Russland erntet Schnurows Song breiten Zuspruch. Manche im Ausland
       lebende Russen und Russinnen zeigen sich wiederum von seinem „Meisterwerk“
       angetan. Die Tatsache, dass der Sänger den nationalsozialistischen
       Judenmord in perfider Weise verharmlost und dabei Holocaustopfer verhöhnt,
       wird hingegen kaum registriert.
       
       Als sich die Band Leningrad zu diesem infamen Song verstieg und ihren Ruf
       somit endgültig ruinierte, dauerte die russische Belagerung der
       ukrainischen Hafenstadt Mariupol bereits mehrere Tage an. Die Stadt wird
       rund um die Uhr beschossen, sie ist ohne Trinkwasser, Strom und Heizung.
       
       Am 16. März wird eine russische Bombe auf das lokale Theater abgeworfen,
       in dem sich Frauen, Kinder und Alte versteckten. Mariupol ist zu einem
       Sinnbild der schrecklichen ukrainischen Tragödie geworden, die sich
       tagtäglich auch in Tschernihiw, Charkiw, in der Hauptstadt Kiew und seinen
       Vororten, im gesamten Land abspielt: Städte werden systematisch zerstört,
       Zivilisten getötet. Millionen von Menschen mussten ihre Heimat verlassen.
       
       Aber Sergei Schnurow interessiert sich nicht für Mariupol oder Tchernihiw.
       Ihm geht es um das Schicksal der Russen und um den Russenhass in Europa.
       Nach dem Kriegsausbruch verstärkten sich tatsächlich antirussische
       Ressentiments in Deutschland und in Europa. Angesichts des dramatischen
       Kriegsverlaufs und entsetzlicher russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine
       werden diese Tendenzen leider eher zunehmen – zur Freude des Kremls, der
       diese Entwicklungen gezielt aufgreift, um das in Russland inzwischen
       omnipräsente Völkermord-Narrativ zu untermauern.
       
       ## Täter-Opfer-Umkehrung
       
       Dieses Narrativ ist nicht neu. Seit Jahren grassieren in Russland die
       haltlosen Völkermord-Vorwürfe gegen die Ukraine, der Mordaktionen gegen die
       russischsprachige Bevölkerung im ukrainischen Donbass unterstellt werden.
       Im Februar nutzte Putin diese Vorwürfe als Vorwand für die militärische
       Invasion.
       
       Gleichzeitig stellte die [2][Propaganda die Russen und Russinnen als
       Menschen dar], die vom Westen glühend gehasst, systematisch diskriminiert
       und bedroht würden. Den USA werden ausgearbeitete Pläne zur Vernichtung der
       russischen Bevölkerung nachgesagt. Die aufgrund der russischen Aggression
       gegen die Ukraine verhängten westlichen Sanktionen werden zu einer
       Kriegserklärung und zugleich zu einem heimtückischen Versuch stilisiert,
       die russische Nation in die Knie zu zwingen. So sei Russland – und nicht
       die von Moskau angegriffene Ukraine – in seiner Existenz bedroht und müsse
       sich gegen den Westen verteidigen.
       
       Die absurde wie zynische Täter-Opfer-Umkehrung und das Völkermord-Narrativ
       sind zentrale Elemente der Moskauer Desinformationskampagne, bei der Sergei
       Schnurow und weitere Künstler mitwirken. Die gewählte Strategie geht in
       Russland auf und bleibt auch in Deutschland nicht ohne Wirkung. Mehr als
       einen Monat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine scheint es immer
       deutlicher, dass der Kreml die russische Gesellschaft insgesamt
       konsolidieren konnte, wobei die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung den
       als „Spezialoperation“ titulierten Krieg – nicht zuletzt beeinflusst von
       der Hetzpropaganda – unterstützt. Kriegsgegner*innen werden verfolgt,
       eingeschüchtert oder haben das Land inzwischen verlassen.
       
       Durch das Völkermord-Narrativ konnten die Machthaber den Fokus auf Russland
       verstellen und die russische Bevölkerung von den dramatischen russischen
       Verlusten und erschreckenden Ereignissen in der Ukraine ablenken. Von der
       ukrainischen Tragödie wollen viele Menschen in Russland und Putins
       Sympathisant*innen in Europa nichts wissen.
       
       ## Instrumentalisierung des Holocaust
       
       Letztendlich wirkt das Völkermord-Narrativ enthemmend auf Putins Truppen,
       die – so wie in Mariupol oder in Kiewer Vororten – blutige Spuren
       hinterlassen und inzwischen für Verbrechen verantwortlich sind, die man in
       Europa nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ nicht mehr für möglich
       gehalten hat.
       
       Das von Schnurow in seinem Song aufgegriffene Thema Holocaust wird ins
       russische Völkermord-Narrativ integriert: Die Russen und Russinnen gelten
       als „neue Juden“. Die Instrumentalisierung des Holocaust, die sich im
       aktuellen Krieg beobachten lässt, hat in Russland ohnehin Tradition.
       
       Während der nationalsozialistische Judenmord in der UdSSR wenig beachtet
       wurde und in der sowjetischen Erinnerungskultur nur eine marginale Rolle
       spielte, wurde er nach 1991 deutlich intensiver behandelt und unter Putin –
       im Kontext der rasanten Aufwertung des Zweiten Weltkriegs – gezielt
       verwendet, um die baltischen Staaten, Polen und vor allem die Ukraine zu
       diffamieren. Diese Besonderheit führte dazu, dass viele Menschen – vor
       allem in der russischen Provinz – ein verzerrtes Geschichtsbild haben,
       wenig über die NS-Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung wissen und
       dadurch anfällig für Putins Geschichtsmanipulationen sind.
       
       ## „Ukrainische Erzfeinde“
       
       So ist es keinesfalls verwunderlich, dass die propagandistische
       Instrumentalisierung des Holocaust mit einem Anstieg des Antisemitismus
       einhergeht, der sich etwa in Angriffen auf „ukrainische Erzfeinde“
       jüdischer Herkunft, insbesondere auf den Staatspräsidenten Selenski, in
       russischen sozialen Netzwerken manifestiert.
       
       Wie wenig Respekt aber Moskau vor den Opfern des Holocaust und allgemein
       vor Opfern des Zweiten Weltkriegs tatsächlich hat, wird schon in den ersten
       Kriegswochen deutlich: Selbsternannte „Befreier von ukrainischen Nazis“
       greifen die [3][Holocaustdenkmäler wie in Kiew und Charkiw an] und
       beschießen Synagogen. 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen
       Holocaustüberlebende aus der Ukraine nach Deutschland oder nach Israel
       fliehen. Der 96-jährige KZ-Überlebende aus Charkiw, Boris Romantschenko,
       wird bei einem russischen Bombenangriff getötet.
       
       In Deutschland werden diese Entwicklungen zwar registriert. Das
       Völkermord-Narrativ und die perfiden Holocaustvergleiche werden jedoch
       selten reflektiert. Angesichts der deutschen Vergangenheit und des
       nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die UdSSR ist das Thema
       für die Politik zu brisant. Letztere zeigt sich zu Recht über antirussische
       Ressentiments beunruhigt und verurteilt sie. Um die russischsprachige
       Bevölkerung beziehungsweise aus Russland stammende Menschen in Deutschland
       vor Anfeindungen zu schützen, werden gleichzeitig undifferenzierte
       Wunschbilder von einem „Putin-Krieg“ und einem „anderen, den Krieg
       ablehnenden Russland“ konstruiert.
       
       Dabei werden unangenehme Tatsachen übersehen: Dass der von Putin
       angezettelte Krieg überwiegend vom russischen Machtapparat unterstützt
       wird; dass Kriegsverbrechen von einfachen Soldaten verübt werden; dass
       zahlreiche Menschen in Russland den Krieg unterstützen und vom
       Völkermord-Narrativ überzeugt sind; dass es auch in Deutschland reichlich
       Unterstützer*innen dieses Krieges gibt. Besonders Radikale unter ihnen
       zeigen inzwischen offen ihre Sympathien.
       
       Als die ganze Welt am 3. April empört und fassungslos Bilder und Videos aus
       dem Kiewer Vorort Butscha sieht, wo die russischen Truppen etwa 340
       Zivilisten ermordet haben sollen, findet in Berlin ein prorussischer
       Autokorso statt, bei dem ein Auto mit dem aufgeklebten „Judenstern“ mit dem
       Wort „Russe“ und der Frage „Bald auch wir?“ mitfährt. Sergei Schnurows
       Botschaft ist angekommen im Berlin des Jahres 2022.
       
       11 Apr 2022
       
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