# taz.de -- Spanien bei der Frankfurter Buchmesse: Die Tradition neu erfinden
       
       > Männer, die sich als Autorinnen ausgeben, und Autor:innen, die viel zu
       > sagen haben. Die spanische Literatur ist deutlich in Bewegung geraten.
       
 (IMG) Bild: Der Diada de Sant Jordi ist ein wichtiger Tag für den spanischen Buchhandel
       
       „The Future is Female“ – vor einigen Jahren las man diesen Slogan überall
       in sozialen Medien, auf T-Shirts gedruckt sowie als Titel eines Sammelbands
       mit Beiträgen berühmter Frauen. Ursprünglich bekannt wurde er bereits in
       den 70er Jahren als Motto von Labyris Books, der ersten Buchhandlung in
       New York City speziell für Frauen.
       
       Die spanischsprachige Buchbranche scheint sich nun dieses Motto besonders
       zu Herzen genommen haben. Der Eindruck entsteht jedenfalls, hört man Jesús
       Badenes, CEO der Verlagsgruppe Planeta, sprechen. Grupo Planeta ist mit
       über 70 Verlagen und um die 15.000 Autor:innen die bedeutendste
       Verlagsgruppe Spaniens und Lateinamerikas. Vor allem in Spanien lesen
       inzwischen mehr Frauen als Männer, sagt Badenes bei einem Treffen in
       Barcelona.
       
       Das sei nicht immer so gewesen, aber heute, schätze er, sei das Verhältnis
       60 zu 40. Die spanische Vielleserin sei durchschnittlich Mitte fünfzig,
       lebe im urbanen Raum und verfüge über eine akademische Bildung. In Spanien
       sei vor allem Belletristik sehr beliebt. „Ein wesentlicher Fokus bei uns
       liegt deshalb auf Romanen; viele von Frauen für Frauen geschrieben“, sagt
       Badenes.
       
       Das zeigt sich auch an den spanischen Bestsellerlisten, an deren Spitze
       regelmäßig Namen wie Eva García Sáenz de Urturi („Die Stille des Todes“),
       Dolores Redondo („Alles was ich dir geben will“) und Maria Dueñas („Das
       Echo der Träume“) stehen. Auch Carmen Mola ist dort seit Jahren mit sehr
       erfolgreichen Thrillern vertreten.
       
       ## Skandal um Pseudonym
       
       Doch es war ein kleiner Skandal, als vergangenen Herbst bei der Verleihung
       des Premio Planeta – des mit einer Million Euro höchstdotierten
       Literaturpreises Spaniens – herauskam, dass sich hinter dem Pseudonym
       Carmen Mola drei männliche Autoren verbergen, die sonst Drehbücher für
       Fernsehserien schreiben.
       
       „Carmen gefällt“, lässt sich das Pseudonym übersetzen. Und der Erfolg der
       Buchreihe im spanischsprachigen Raum (im deutschen erschien bisher nur „Er
       will sie sterben sehen“) bestätigt die Namenswahl.
       
       Nahm man vorher an, dass es sich bei der Erfinderin der äußerst brutalen
       Thriller um eine Professorin in Madrid handle, Mutter dreier Kinder und
       nach eigenen Angaben in schriftlich geführten Interviews eher
       „konventionell“ – also all das, was die Hauptleserinnengruppe anspricht –,
       ernüchterte die Bekanntgabe des Autorentrios viele.
       
       Man habe sich rein zufällig für ein weibliches Pseudonym entschieden, geben
       die Autoren Agustín Martínez, Jorge Díaz und Antonio Mercero an. Der
       Verdacht, dass verkaufsstrategische Gründe dahinterstecken, hält sich nun
       allerdings hartnäckig.
       
       ## Diada de Sant Jordi in Barcelona
       
       Das Autorentrio „Carmen Mola“ sowie Schriftstellerinnen wie María Dueñas,
       Eva García Sáenz de Urturi und über hundert weitere haben sich am 23. April
       in Barcelona eingefunden. Es ist ein ganz besonderer Tag in der
       katalanischen Hauptstadt: Diada de Sant Jordi.
       
       Dieser auf der Legende des heiligen Georg basierende Festtag wird in
       Barcelona groß gefeiert. 1926 von dem valencianischen Schriftsteller
       Vicente Clavel Andrés initiiert und 1931 mit dem Welttag des Buches
       fusioniert, gelten seither zwei Traditionen am katalanischen Georgstag:
       das Verschenken einer roten Rose und das Verschenken von Büchern.
       
       Ursprünglich erhielten Männer und Jungen ein Buch als Symbol für Kultur und
       Bildung, Frauen und Mädchen hingegen eine Rose, die gemeinhin mit Schönheit
       und Emotionen verbunden wird. „Die in der Tradition verankerten Praktiken
       haben einen sexistischen Charakter“, sagte die Soziologin und feministische
       Autorin Esther Viva 2019 gegenüber der größten spanischen Tageszeitung El
       País. Zum Glück aber seien Traditionen dazu da, sich neu zu erfinden, und
       so sei eine Abkehr von den starren Ritualen rund um Sant Jordi erkennbar,
       fügte sie hinzu.
       
       Und in der Tat: Blickt man sich auf dem diesjährigen Sant Jordi in
       Barcelona um, sind es viele Frauen und Mädchen, die hier zusammenkommen.
       Stundenlang stehen sie Schlange, um sich ein Autogramm ihrer
       Lieblingsautor:innen zu holen.
       
       ## Die Stadt wird zum Open-Air-Buchladen
       
       Überall in der Stadt, aber vor allem im zentral gelegenen Bezirk Eixample,
       der auch die Sagrada Família beheimatet, sind Stände aufgebaut. 300 sind
       es offiziell, darüber hinaus sieht man in entfernteren Ecken der Stadt aber
       auch improvisiert aussehende Buden vor Antiquariaten und kleinen
       Comicläden.
       
       Der spanische Buchhandel profitiert sehr von diesem Ereignis: 2019 wurden
       in der Woche vor Sant Jordi 1,6 Millionen Bücher im Wert von rund 22
       Millionen Euro verkauft. 2021 waren es trotz der pandemiebedingten
       Teilnahmebeschränkungen immer noch um die 1,5 Millionen Exemplare. Auch
       von diesem Sant Jordi, dem ersten ganz ohne Schutzmaßnahmen seit Beginn der
       Coronapandemie, versprach man sich viel.
       
       Doch der Tag wird dieses Mal immer wieder von heftigen Regen- und
       Hagelschauern bestimmt, sodass in unregelmäßigen Abständen Bücher schnell
       verpackt werden müssen und der Verkauf pausiert. Viele harren dennoch
       tapfer aus, um doch noch ihren literarischen Stars zu begegnen. Nach dem
       ersten heftigen Schauer reißt die Wolkendecke tatsächlich wieder auf, die
       Sonne kommt hervor, die Menschen jubeln und klatschen – ein berührender
       Moment.
       
       Ein Mädchen auf dem Prachtboulevard Passeig de Gràcia sagt, sie habe vier
       Stunden angestanden und gewartet nur für ein Autogramm ihrer
       Lieblingsautorin und ein Selfie mit dieser. In der Hand hält sie ein Buch
       von Alice Kellen, aus dem unzählige bunte Post-its ragen. Alice Kellen ist
       das Pseudonym einer 33-jährigen valencianischen Autorin, die sich jedoch
       nicht dahinter versteckt. Mit immerhin 14 veröffentlichten Jugendromanen,
       von denen bisher noch keiner ins Deutsche übersetzt wurde, ist sie einer
       der Stars auf dem diesjährigen Sant Jordi.
       
       ## Lyrikerin wird zum Popstar
       
       Ein Star ist auch Elvira Sastre, die vor allem durch Lyrik und ihre
       Poetry-Slams bekannt wurde. Zu ihren Auftritten kommen inzwischen
       Tausende, auf Instagram folgen ihr mehr als eine halbe Million. Mit „Die
       Tage ohne dich“ ist gerade ihr Debütroman auf Deutsch im Thiele Verlag
       erschienen. Das von ihrer eigenen Geschichte inspirierte Buch spielt im
       heutigen Madrid sowie in den Wirren des Spanischen Bürgerkriegs.
       
       Anhand von Gesprächen zwischen einer Großmutter und ihrem Enkel dröselt
       Sastre [1][die spanische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts] auf. Eine
       Geschichte, die viele Wunde hinterlassen habe und bisher nicht hinreichend
       aufgearbeitet sei, sagt die 30-jährige Autorin auf einem Empfang von Grupo
       Planeta. Im September wird auch ihr Gedichtband „Eines Tages werde ich mich
       selbst retten“ in Deutschland publiziert, pünktlich zur diesjährigen
       Frankfurter Buchmesse.
       
       Dort wird Spanien nach über 30 Jahren zum zweiten Mal Ehrengast sein.
       [2][Die dort vorgestellten Bücher zeigten], dass sich das Land seit seinem
       letzten Besuch 1991 literarisch stark verändert habe, sagt Elvira Marco,
       die als Projektleiterin für den Gastauftritt Spaniens verantwortlich ist.
       „Sprühende Kreativität“, so das Motto, sei das, was man erwarten dürfe.
       
       Was das viel- und gleichzeitig etwas nichtssagenden Motto meinen könnte,
       darauf gibt das bisherige Programm des Gastlands erste Hinweise:
       sprachliche Vielfalt (neben dem als Spanisch bekannten Kastilisch gibt es
       in Spanien mit Katalanisch, [3][Baskisch und] Galicisch noch drei weitere
       offizielle Landessprachen), die sogenannte Bibliodiversität sowie ein
       ausgeglichenes binäres Geschlechterverhältnis.
       
       Letzteres ist vielleicht der einzige Wermutstropfen in einem sonst äußerst
       [4][spannend klingenden Ausblick]. Wie auch im Slogan „The Future is
       Female“ scheinen Stimmen jenseits der binären Geschlechterordnung bislang
       ausgespart. Dabei gäbe es mit Autor:innen wie José Luis Serrano, Eva
       Baltasar und Elisabeth Duval diese auch in der spanischen Literatur.
       
       1 May 2022
       
       ## LINKS
       
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