# taz.de -- Fernando Aramburu über seinen Roman: „Viele Wunden sind noch weit offen“
       
       > In Spanien ist „Patria“ ein Bestseller. Fernando Aramburu ist ein großer
       > Roman über das Baskenland, die ETA und den Alltag des Terrors gelungen.
       
 (IMG) Bild: Der Auto vor dem Hotel Savoy in Berlin
       
       taz am wochenende: Herr Aramburu, Sie leben seit 1985 in der
       Bundesrepublik. Ein Baske in Hannover, wie kam es dazu? 
       
       Fernando Aramburu: Anfang der achtziger Jahre studierte ich in Saragossa,
       Spanien. Dort lernte ich ein hübsches Mädchen aus Hannover kennen. Ich zog
       zu ihr nach Deutschland. Und nach nun 34 Jahren leben wir immer noch
       zusammen und haben zwei mittlerweile erwachsene Töchter.
       
       Sie gehörten in Ihrer Jugend in San Sebastián einer avantgardistischen
       Literaturgruppe an? 
       
       Die hieß Clock. Wir haben sie 1978 gegründet, ich war neunzehn. Franco war
       1975 gestorben, Spanien brach in die Demokratie auf. Wir beriefen uns auf
       den Surrealismus. Gingen raus auf die Straße. Druckten Zeitschriften mit
       leeren Seiten, wollten provozieren, parodieren. Ob links oder rechts, war
       uns egal. Wir waren gegen politische Fanatiker.
       
       Haben Sie auf Baskisch formuliert? 
       
       Nein. Ich kann nur in meiner Muttersprache Spanisch schreiben. Alles andere
       wirkt künstlich, wenn ich es versuche.
       
       Von Deutschland aus beschäftigten Sie sich weiterhin mit dem baskischen
       Nationalismus und seinen Extremen, warum? 
       
       Ich schaue, was sich dahinter verbirgt. Die einzelnen Menschen, wie sie
       fühlen, zusammenleben, sich lieben oder hassen. Das interessiert mich. Die
       deutsche Gesellschaft war und ist für mich weit weniger problematisch als
       die baskische, mit der ich mich fast schon obsessiv auseinandersetze.
       
       Schaut man aus der Ferne vielleicht genauer hin? 
       
       Ich reise mehrmals im Jahr nach Spanien. Ich bin im Baskenland
       aufgewachsen, habe dort Freunde und verfolge auch aus der Distanz genau,
       was geschieht. Wie es gekommen wäre, wenn ich geblieben wäre, darauf habe
       ich natürlich keine Antwort.
       
       „Patria“, so auch der Titel Ihrer deutschsprachigen Romanausgabe. „Patria“
       heißt Heimat/Vaterland. Was bedeutet Ihnen dieser Begriff? 
       
       Nicht viel. Wir beschlossen den Titel auf Spanisch zu belassen, in
       deutscher Übersetzung hätte „Patria“ einen unangenehmen Beigeschmack
       bekommen. Den hat das Wort auch auf Spanisch. Nur ist dort der Kontext, um
       den es mir geht, klar. Ich bin kein Freund kollektiver Gefühle und
       Behauptungen. Mich wirst du nicht mit einer Fahne auf der Straße treffen.
       Was nicht heißt, dass ich mich nicht für ein Fußballteam aus meiner Region
       begeistere oder mir bestimmte Landschaften nicht besonders vertraut wären.
       
       Sie haben einen Lieblingsverein? 
       
       Real Sociedad San Sebastián in Spanien und Hannover 96 in Deutschland. Aber
       meine Vorlieben richten sich nicht negativ gegen andere.
       
       Ihr Roman scheint unglaublich dicht am Leben von Tätern und Opfern des
       baskischen Konflikts geschrieben. Hatten Sie konkrete Orte, Personen und
       Ereignisse zum Vorbild? 
       
       Jede Menge, die ich in meinem Roman erwähnt oder auf die ein oder andere
       Weise eingebaut habe. Aber es sind Romanfiguren, also fiktive. Genauso wie
       die Orte und Schauplätze.
       
       Ihre Eltern stammen ebenfalls aus San Sebastián? 
       
       Mein Vater schon, er arbeitete in einer Druckfabrik. Bei der Ausgestaltung
       von Figuren greift man auf real Erlebtes, Alltägliches zurück. Aber der
       konkrete Hintergrund, die Geschichte, das ist eine andere Sache. Nichts in
       „Patria“ ist in autobiografischer Absicht formuliert. Ich schöpfe zwar aus
       meinen realen Erfahrungen, habe diese aber mit anderem kombiniert.
       
       Liegt der politischen Handlung Ihres Romans ein bestimmtes ETA-Attentat
       zugrunde? 
       
       Nein, aber es hat ähnliche gegeben. Beim Schreiben habe ich mir ständig die
       Frage gestellt: Wäre das, was ich hier behaupte, tatsächlich so möglich
       gewesen, oder nicht? Der Hauptschauplatz ist ja ein fiktives Dorf bei San
       Sebastián.
       
       Der Bruder eines Aktivisten entzieht sich in Ihrem Roman durch
       Beschäftigung mit Literatur dem ETA-Milieu? 
       
       Ich bin der Überzeugung, dass Kultur, Bücher, Kunst und Kreativität die
       Möglichkeit enthalten, Menschen vor dem Fanatismus zu bewahren, vor diesem
       dunklen Abgrund des Terrorismus. Eine der Romanfiguren, Gorka, lebt als
       Bruder eines ETA-Aktivisten im gleichen Dorf, in der gleichen Wohnung, im
       gleichen Zimmer. Und dennoch wird er – genauso wie die Schwester – zu einem
       der Kritik fähigen Menschen.
       
       Sie verzichten auf ideologische Ausführungen, beschreiben alles über die
       Personen und die Handlung. Welche Überlegung liegt dem zugrunde? 
       
       Literatur für propagandistische Zwecke zu nutzen, ist kein guter
       künstlerischer Weg. Ich will darstellen und erzählen, ohne über alles meine
       Meinung zu lagern.
       
       In Patria beschreiben Sie Täter wie Opfer des ETA-Terrorismus. „Normale“
       Menschen, mit unspektakulären Interessen: Radfahren, Karten spielen,
       Kochen, Fisch essen, Gemüsegärten. Doch als Txato, ein lokaler Unternehmer,
       sich weigert, immer höhere Schutzgeldforderungen zu leisten, wird er erst
       vom Dorf geächtet und dann vom Kommando des Sohns des Nachbarn erschossen.
       Ein realistisches Szenario? 
       
       Völlig realistisch. Das ist mehr als einmal so vorgekommen. Es gibt
       insgesamt über 800 Todesopfer durch ETA, die meisten übrigens Basken. Bei
       gezielten Anschlägen wurden Unternehmer wie Txato, die Figur in meinem
       Roman, ermordet. Es gibt Leute, die mit mir nicht einverstanden sind. Aber
       niemand bestreitet, dass diese Dinge nicht real passiert wären.
       
       Warum blieb ETA für baskische Jugendliche auch über die Franco-Zeit hinweg
       so attraktiv? 
       
       Schwierig zu beantworten. Geografisch war das auch sehr unterschiedlich.
       Aber in der Provinz Gizpuzkoa hatte ETA immer besonders viele Anhänger. Was
       sich auch regelmäßig bei den Wahlen niederschlug. Vor allen in den kleinen
       Dörfern, das beschreibt mein Roman, war es oftmals schwierig, als Dissident
       zu leben. Da weiß man, was der oder die andere denkt. Da existiert ein
       sozialer Druck von Anfang an, bei den Kindern und in den Freundeskreisen.
       In den Städten hat man etwas mehr Luft zum Atmen, genießt individuellere
       Freiheiten.
       
       Einige Ihrer jugendlichen Figuren verlassen die Region, um sich dem Druck
       zu entziehen. 
       
       Ja, die einzige Chance ist wegzugehen. In eine große Stadt wie Bilbao oder
       eben zum Studieren nach Saragossa.
       
       Erst 2011 sah sich ETA zur Waffenniederlegung gezwungen. 
       
       Stimmt, es dauerte lange. Aber Sie müssen bedenken, dass nicht alle
       baskischen Nationalisten für ETA und die Gewalt waren. Das ist schon ein
       besonderes Milieu. Aber es gibt Abstufungen, Haltungen und Übergänge, in
       denen sich Positionen mischen. Eine völlige Unabhängigkeit des Baskenlands
       wird von der Mehrheit nicht unterstützt. Aber von vielen. Darunter auch von
       einigen, die gegen die Gewalt waren. Und die dann teils ebenfalls Opfer von
       ETA wurden.
       
       Ihr Roman nimmt sehr verschiedene Perspektiven ein. Opfer wie Täter, Kinder
       und Eltern. Wie haben Sie für jene Kapitel recherchiert, die aus der
       Perspektive von ETA-Aktivisten verfasst sind? 
       
       Ich habe sehr viel gelesen und recherchiert. Auch mit Personen direkt
       gesprochen, die sich genau mit ETA und dem Untergrund auskennen. So habe
       ich viele Hinweise bekommen, gerade was die Terminologie der internen
       Kommunikation von ETA anbetrifft. Aber: Ich brauche niemanden selber
       umzubringen, um einen Mord beschreiben zu können.
       
       „Patria“ wurde zum Riesenerfolg. Über 700.000 verkaufte Exemplare in
       Spanien bislang. 
       
       So etwas kann man nicht planen. Das Buch ist seit Weihnachten erneut auf
       Platz 1 der Bestsellerliste. Mein Roman wurde zum sozialen Phänomen, zum
       Gesprächsthema in ganz Spanien. ETA hat erst letztes Frühjahr einen
       weiteren Teil der Waffen abgegeben. Und aktuell haben wir nicht ganz
       unähnliche aber zum Glück weit weniger blutige Auseinandersetzungen um
       Katalonien.
       
       Wie waren die Reaktionen im Baskenland selbst? 
       
       Die Säle bei meinen Lesungen in den Provinzhauptstädten Bilbao, San
       Sebastián und Vitoria waren überfüllt. Auch Prominente meldeten sich zu
       Wort. Endlich scheint bei uns im Baskenland eine friedliche Debatte mit
       unterschiedlichen Positionen möglich. Ich bekam Kritik, aber mit Respekt
       und ohne Bedrohung. Man muss auch verstehen: Viele Wunden sind noch weit
       offen. Viele Leute waren beteiligt, haben gelitten. Andere taten Unrecht,
       haben geschwiegen, haben ein schlechtes Gewissen. Mein Buch ist ein Angebot
       zur Diskussion.
       
       Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa sagt, Sie hätten den besten Roman über
       ETA und den Terrorismus geschrieben. Nur mit dem Schluss hadert er ein
       wenig. Was halten Sie ihm entgegen? 
       
       Ich glaube, er hätte sich ein anderes Ende gewünscht. Eines, indem auch die
       ETA-Sympathisanten eine Strafe bekommen hätten. Das wollte ich aber nicht.
       
       Die aus der operativen Kommandoebene sitzen ja bei „Patria“ schließlich im
       Gefängnis. 
       
       Ja, aber Vargas Llosa scheint das wohl zu wenig, wenn er an die
       Unterstützer denkt. Die letzte Szene ist die, die mir zuerst eingefallen
       ist. Die beiden weiblichen Hauptfiguren scheinen sich nach Jahren wieder
       anzunähern. Das wird eher flüchtig erzählt, ist mir aber als Perspektive
       sehr wichtig. Es gibt kein glückliches Ende, doch einen kleinen Schimmer
       von Hoffnung.
       
       29 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) ETA
 (DIR) Baskenland
 (DIR) Terror
 (DIR) Literatur
 (DIR) Spanien
 (DIR) Literatur
 (DIR) Spanien
 (DIR) Spanien
 (DIR) Mario Vargas Llosa
 (DIR) ETA
 (DIR) Spanien
 (DIR) ETA
 (DIR) ETA
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Spanien
 (DIR) ETA
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Buch „Reise mit Clara durch Deutschland“: Unterwegs im grauen Land
       
       Fernando Aramburu wurde mit dem üppigen Baskenland-Panorama „Patria“
       bekannt. Einen älteren Roman stellt er nun in seiner Wahlheimat Hannover
       vor.
       
 (DIR) Hannes Köhler über seinen Roman „Götterfunken“: „Er verschwindet nach dem Attentat“
       
       Hannes Köhlers „Götterfunken“ handelt von Anarchisten. Und spielt auf
       verschiedenen Zeitebenen zwischen Barcelona, Toulouse und Frankfurt.
       
 (DIR) Spaniens Eliteeinheit und der Faschismus: Fehlende Aufarbeitung
       
       Die Spanische Legion, eine militärische Eliteeinheit, feiert ihren 100.
       Geburtstag. Ihre im Faschismus begangenen Verbrechen werden ausgeblendet.
       
 (DIR) „Harte Jahre“ von Mario Vargas Llosa: Durch die Gringos radikalisiert
       
       Eine Reise in die kommunistischen 50er. In seinem Alterswerk „Harte Jahre“
       kommt der große Erzähler Vargas Llosa auf den Putsch in Guatemala zurück.
       
 (DIR) Bestseller-Autor über Spaltung: „Kultur macht die Menschen besser“
       
       Fernando Aramburu ist in Spanien Bestsellerautor. Er schreibt über den
       Terror der ETA – und lebt seit 1985 in Hannover.
       
 (DIR) Bürgerbewegung in Spanien: Basken wollen Selbstbestimmung
       
       Im Baskenland nehmen 100.000 Menschen an einer Menschenkette für mehr
       Autonomie teil. Die regierende PSOE will eine Verfassungsreform.
       
 (DIR) Baskische Separatisten in Spanien: ETA erklärt ihre Selbstauflösung
       
       853 Tötungen gehen auf das Konto der ETA. Nun soll endgültig Schluss mit
       dem Untergrundkampf sein. Der Gewalt hat die Organisation bereits 2011
       abgeschworen.
       
 (DIR) Baskische ETA löst sich endgültig auf: Entschuldigung für all das Leid
       
       In einem Statement bittet die Separatistenorganisation ihre Opfer um
       Vergebung. Die Idee der baskischen Unabhängigkeit aber lebe weiter
       
 (DIR) Baby-Handel in der Ära Franco: Spaniens gestohlene Kinder
       
       Sie liebte ihren Papa, dann starb er. Heraus kam: Er war nicht ihr Vater.
       Seitdem sucht Ascensión López nach der Wahrheit – so wie Tausende.
       
 (DIR) Kommentar Entwaffnung der ETA: Ohne Weitblick und Großzügigkeit
       
       Die Waffenabgabe der ETA ist ein starkes Signal für friedliche
       Konfliktlösung. Die spanische Regierung handelt jedoch nicht mit gleicher
       Größe.
       
 (DIR) Entwaffnung der Untergrundorganisation: Baskische ETA legt Waffenlager offen
       
       3,5 Tonnen Waffen und Sprengstoff fand die französische Polizei, nachdem
       die baskische Untergrundorganisation eine Liste mit den Verstecken
       übergeben hatte.