# taz.de -- Lage von Mieter:innen in Deutschland: Wohnen als Lebensmittel
       
       > Die Wohnungskrise verschärft die Kluft zwischen Mietern und Vermietern.
       > Und die Politik? Liefert zu wenige Lösungen.
       
 (IMG) Bild: Der Staat muss die Lage der Mieter:innen verbessern
       
       Es ist eigentlich ein bescheidener Wunsch. Jeder Mensch will eine günstige
       Wohnung, die Licht, Luft und Raum zur freien Entfaltung bietet. Doch für
       die Mehrheit der Mieterinnen und Mieter in Deutschland wird dieser Wunsch
       immer mehr zu einem unerfüllbaren Traum. Sie sind die Verlierer der
       [1][Wohnungskrise], die sich insbesondere im letzten Jahrzehnt stetig
       verschärft hat.
       
       Denn der Anteil des Einkommens, der durch die [2][Miete] gefressen wird,
       ist in den letzten 30 Jahren stark angestiegen. Das verdeutlichen Daten des
       Instituts der deutschen Wirtschaft. So mussten Anfang der 1990er Jahre
       Mieterhaushalte im Mittel 15 Prozent ihres Nettoeinkommens für die
       Kaltmiete ausgeben. Mittlerweile sind es ungefähr 25 Prozent.
       
       Besonders verschärft hat sich [3][die Lage für Großstadtmieter]. Ein
       Forschungsteam um den Soziologen Andrej Holm ermittelte, dass die Hälfte
       aller dortigen Mieterhaushalte mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens für
       die Warmmiete aufwendet. Gut ein Viertel der Haushalte müssen sogar jeden
       Monat mindestens 40 Prozent ihres Einkommens an den Vermieter überweisen.
       Die kommende Steigerung der Nebenkosten ist hier noch nicht berücksichtigt.
       
       Die Profiteure dieser Entwicklung sitzen am anderen Ende der Nahrungskette.
       Die reichsten 10 Prozent haben am stärksten von den steigenden Preisen am
       Wohnungsmarkt profitiert. Sie herrschen über fast zwei Drittel des gesamten
       Immobilienvermögens. Im letzten Jahrzehnt konnte diese kleine Elite allein
       durch die steigenden Immobilienpreise Vermögensgewinne von 1,5 Billionen
       Euro realisieren.
       
       ## Die Entwicklung ist eigentlich nicht neu
       
       Was wir als „Rückkehr der Wohnungsfrage“ erleben, ist das Aufflackern einer
       historischen Krise, die schon seit Beginn der kapitalistischen Gesellschaft
       schwelt. „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche
       Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch
       den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten
       haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte
       Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die
       Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“ Diese Beschreibung ist
       150 Jahre alt und stammt von Friedrich Engels.
       
       Engels analysiert in diesem Aufsatz, warum sich die Wohnungsfrage im
       Kapitalismus immer wieder neu stellt. Im Kern ist der Mietvertrag „ein ganz
       gewöhnliches Warengeschäft“ zwischen zwei Bürgern. Das Interesse des
       Vermieters an einer profitablen Verwertung seines Immobilienkapitals und
       das Interesse des Mieters an guten Wohnbedingungen stehen dabei im
       Gegensatz zueinander. Der gesellschaftliche Kontext, in dem sich dieser
       Gegensatz vollzieht, führt zur Entstehung eines strukturellen
       Machtgefälles.
       
       Das Machtgefälle zwischen Mietern und Vermietern hat seine Ursache in der
       kapitalistischen Produktionsweise. Sie erzeugt eine große Masse
       eigentumsloser Arbeitskräfte, die – weder räumlich noch sozial gebunden –
       nur mithilfe der Lohnarbeit überleben kann. Die wirtschaftliche Dynamik
       führt zur räumlichen Zusammenballung von Kapital und Menschen in globalen
       Metropolregionen. Im Kapitalismus ist Boden eine Ware und die Verteilung
       urbaner Räume vollzieht sich nach Marktgesetzen. Konkret bedeutet das: Die
       zahlungskräftigsten Akteure erhalten den ersten Zugriff.
       
       ## Wer nicht genug zahlt, zählt nicht
       
       Unter diesen Bedingungen lohnt sich die Bereitstellung von bezahlbarem
       Wohnraum für Geringverdiener nicht. Wer nicht genug zahlt, zählt nicht. Und
       so beschreibt Engels, wie Mieter in regelmäßigen Abständen aus ihren
       Quartieren an die Ränder der Städte vertrieben werden. Er beschreibt, wie
       Vermieter ihre Gewinne durch alle möglichen Tricks und „Prellereien“ über
       die vereinbarte Miete hinaus zu steigern versuchen. Schilderungen, die
       heute bei von Gentrifizierung und überhöhten Nebenkosten betroffenen
       Mietern Déjà-vus auslösen.
       
       Die Verschärfung der Wohnungskrise im letzten Jahrzehnt hat die
       Umverteilung der Macht zwischen Vermietern und Mietern nochmals
       beschleunigt. Seit 2010 steigen die Preise für Baugrund und Wohnimmobilien
       unablässig an. Nach der Finanzkrise wurden Investitionen in Immobilien
       lukrativer. Seitdem strömt immer mehr anlagensuchendes Kapital auf den
       Wohnungsmarkt. Wachsender Zuzug in die Städte und eine viel zu geringe
       Bautätigkeit begünstigen diese Dynamik zusätzlich. Weil die Wohnungspreise
       steigen, werden immer weniger Mieter zu Eigentümern. Diejenigen, die es
       noch können, treibt die Angst vor hohen Mieten zum Immobilienkauf.
       Infolgedessen dreht sich die Preisspirale weiter, wodurch sich am Ende
       abermals die Attraktivität des „Betongolds“ erhöht.
       
       Die Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Eigentümern und Nichteigentümern am
       Wohnungsmarkt erfordert die selbstständige Organisierung der Mieter. Sie
       können ihre Lage nur verbessern, wenn sie die Vereinzelung überwinden und
       gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Einen anderen Weg gibt es für sie
       nicht.
       
       Denn die herrschende Politik reagiert, indem sie Illusionen nährt. Mehr
       sozialer Wohnungsbau, Mietenbremsen und Erhaltungssatzungen sollen nach
       Aussage der regierenden Ampelkoalition für Entlastung sorgen. Die Hoffnung
       ist allerdings trügerisch. Steigende Bodenpreise sowie die Rohstoff- und
       Klimakrise werden den Neubau unvermeidlich immer teurer machen.
       Mietpreisbremsen und Erhaltungssatzungen haben sich in der Praxis als
       stumpfe Waffen gegen steigende Mieten erwiesen.
       
       ## Klagen bringt allzu oft auch wenig
       
       Viele Mieter versuchen deshalb, ihr Recht vor Gericht durchzusetzen. Aber
       der rechtliche Weg mündet häufig in einer Sackgasse. Gerichtsverfahren
       kosten viel Geld und viele Nerven. Die meisten Mieter haben dafür keine
       Ressourcen übrig. Noch aussichtsloser ist der rechtliche Weg bei mächtigen
       Gegnern wie der Vonovia, dem größten Wohnungsunternehmen in Deutschlands,
       dem mehr als 355.000 Wohneinheiten gehören. Selbst wenn das Unternehmen
       weiß, dass es verlieren wird, geht es häufig den Weg durch alle Instanzen,
       um den Rechtsstreit in die Länge zu ziehen. Der milliardenschwere,
       börsennotierte Konzern bezahlt die Rechtskosten aus der Portokasse.
       
       Weder der Staat noch die Gerichte werden die Lage der Mieter langfristig
       verbessern. Aber die Mieter sind dennoch nicht schutzlos. Sie können an
       Verhandlungsmacht gewinnen, wenn sie ihre Zersplitterung überwinden. Als
       Werkzeug dafür bietet sich das Konzept einer Mietergewerkschaft an. Sie
       funktioniert wie eine traditionelle Gewerkschaft. Diese wurden gegründet,
       als die Arbeiter lernen mussten, dass sich ihre Interessen nur gemeinsam
       gegen die Bosse durchsetzen lassen. Eine Mietergewerkschaft strebt ebenso
       an, die Mieter zu einer kollektiven Macht zu formieren. Sie organisiert
       Mieterversammlungen, stellt Öffentlichkeit her und durchbricht die
       Isolation der Mieter. Im Gegensatz zu den Mietervereinen, die ihre
       Mitglieder passiv durch individuelle Rechtshilfe schützen, koordiniert sie
       aktiv die Kämpfe um die Miete.
       
       Dass es funktioniert, zeigt das Beispiel einer Frankfurter
       Vonovia-Siedlung. Dort haben gewerkschaftlich organisierte Mieter
       angefangen, sich gegen die intransparenten Nebenkostenabrechnungen des
       Konzerns zu wehren. Auf Versammlungen konnten sich Betroffene ohne Angst
       vor Repressionen austauschen. Schließlich konnten die Mieter den Konzern an
       den Verhandlungstisch zwingen. Mit ihrer Organisationsmacht konnte die
       Mietergewerkschaft für ihre Mitglieder Rückzahlungen von überhöhten
       Betriebskosten erstreiten, ohne dafür den aufwendigen Rechtsweg zu gehen.
       
       Zivilgesellschaftlicher Aktivismus kann lediglich dabei helfen, die
       Auswirkungen der Wohnungskrise zu mildern. Ihre Wurzeln können so
       allerdings nicht beseitigt werden. Denn im Rahmen der kapitalistischen
       Gesellschaft gibt es für die Wohnungsfrage keine Lösung. Eine Gesellschaft,
       die auf einer krassen Ungleichverteilung sozialer Freiheiten beruht und die
       gleichzeitig Grund und Boden als Ware behandelt, muss die Wohnungsfrage
       immer wieder neu erzeugen.
       
       ## Gutes Wohnen geht Hand in Hand mit Pflege und Arbeit
       
       Vielleicht lohnt es sich, nicht nur Engels’ Analyse, sondern auch seinem
       Lösungsvorschlag für die Wohnungsfrage Beachtung zu schenken. „Die Lösung
       liegt aber in der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, in der
       Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel durch die Arbeiterklasse selbst“,
       so seine These. Diese „Aneignung“ der Lebensmittel, zu denen
       selbstverständlich auch die Wohnungen zählen, wäre allerdings eine
       politische Aufgabe.
       
       Zu ihrer Bewältigung wäre eine Partei notwendig, die eng mit den
       zivilgesellschaftlichen Kämpfen nicht nur für gutes Wohnen, sondern auch
       für gute Arbeit oder gute Pflege verbunden wäre. Sie könnte der
       Mieterbewegung ein politisches Programm geben und ihre Kämpfe dadurch
       effektiver machen. Als Engels diese Zeilen schrieb, gab es eine solche
       Partei – die Sozialdemokratie. Unter dem Banner des Sozialismus vermochte
       sie ein breites Netz von Organisationen zu etablieren, in denen die
       Menschen sich unabhängig gegen die Interessen von Unternehmern und Staat
       organisieren konnten.
       
       [4][Eine solche Partei existiert heute nicht]. Sie könnte entstehen, wenn
       sozialer Aktivismus – wie derjenige in der Mietergewerkschaft – zu
       Erfahrungen führt, welche das Fehlen einer wirklichen politischen
       Alternative schmerzhaft ins Bewusstsein rufen. Es wäre der erste Schritt in
       eine Gesellschaft, die gute Wohnverhältnisse für alle Menschen nicht mehr
       als Traum, sondern als reale Möglichkeit am Horizont erscheinen ließe.
       
       3 Jul 2022
       
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