# taz.de -- Begegnung mit einem Kind im Park: Die Pfandsammlerin
       
       > Erst dachte ich, das zehnjährige Mädchen auf dem Tretroller wäre ein
       > gutes Beispiel für Selbstständigkeit. Dann begriff ich ihre Not.
       
 (IMG) Bild: Sichtbare Armut: Laut einer Studie sammeln knapp eine Million Menschen in Deutschland Pfandflaschen
       
       Ein Mädchen fährt auf dem Roller durch den Park. An ihren Lenkern baumeln
       jeweils zwei stabile Einkaufstüten. Darin klimpern Pfandflaschen. Das
       Mädchen ist vielleicht neun, zehn Jahre alt. Sie trägt neue pinke Kleidung.
       Sie hat einen langen blonden Pferdeschwanz, ein fein geschnittenes Gesicht
       und blaue Augen. Sie schaut in jeden Mülleimer, hebt Pfandflaschen vom
       Boden auf. Aus manchen schüttet sie noch Flüssigkeit, bevor sie sie in ihre
       Tüten steckt.
       
       Es hat etwas Spielerisches, wie sie das macht. Zum nächsten Mülleimer
       rollern, hineinsehen. Wenn sie weiterfährt, suchen ihre Augen die Erde ab.
       Sie ist allein, kein Erwachsener und kein anderes Kind sind bei ihr.
       
       Sie scheint sich so Taschengeld dazuzuverdienen. So viele Pfandflaschen
       liegen im Park und in den Straßen. Flaschen für umgerechnet 25, 15, 8 Cent.
       Eine Art weggeworfenes Geld, das vor allem ärmere, erwachsene Menschen
       aufheben. Nach einer Studie sammeln 980.000 Menschen in Deutschland aktiv
       Pfand. Kinder sieht man so gut wie nie [1][Flaschen sammeln]. Es hat etwas
       Erwachsenes, Geschäftstüchtiges, sie so zu sehen. Wenn Kinder allein einer
       Beschäftigung nachgehen, die kein Spiel darstellt, hat das oft etwas
       Interessantes: Was treibt das Kind an, was geht ihm jetzt wohl durch den
       Kopf?
       
       Das Mädchen nimmt vor allem die Einwegflaschen, die 25 Cent Pfand
       einbringen. Sie wird bestimmt mal eine clevere Geschäftsfrau, wenn sie sich
       jetzt schon so selbstständig Geld dazuverdient. Dann fährt sie zur
       Skatebahn in der Mitte des Parks. Hier flitzen Kinder auf Rollern und
       Rollschuhen, viele begleitet von ihren Eltern. Skater in weiten Hosen
       probieren Tricks aus.
       
       ## Das Mädchen beachtet die anderen Kinder nicht
       
       Das Mädchen stellt ihren Roller mit den Tüten am Rand der Bahn ab. Sie
       läuft jetzt mitten auf die Bahn, zu den Mülleimern dort. Sie weicht den
       Kindern in ihrem Alter aus und den älteren Skatern. Sie beachtet sie gar
       nicht. Sie hat nur Augen für das Pfand. Die anderen auf der Bahn fahren,
       lachen und probieren sich aus, Versuch um Versuch. Musik klingt aus Boxen.
       Alle hier sind unbeschwert. Die Zeit fließt.
       
       Das Mädchen läuft zielstrebig zu jedem Mülleimer. Dose um Dose, Flasche um
       Flasche sammelt sie ein. Dann kommt sie mit ihrer Beute zu ihrem Roller
       zurück. Ein Impuls führt dazu, sie anzusprechen: „Du sammelst
       Pfandflaschen?“ Sie schaut überrascht, herausgerissen aus ihrer Welt:
       „Nicht verstehen“, sagt sie leise. Eine neue Frage an sie, geleitet von
       einer Ahnung: „Russkij?“ Das Mädchen nickt mit dem Kopf. Ein Lächeln, ein
       Daumen nach oben, um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Sie steckt
       die Flaschen in ihre Tüten.
       
       Auf einmal kippt die ganze ausgedachte Geschichte: Das Mädchen, das sich
       ihr Taschengeld aufbessert. Die es raus hat, die anders als die anderen
       Kinder schon weiß, wie man clever Geld verdient. Die Geschichte hängt jetzt
       am falschen Haken. Ist dieses Kind eine Geflüchtete? Ein Mädchen aus der
       [2][Ukraine]? Wofür sammelt sie? Für sich, ihre Familie? Und was soll
       eigentlich geschäftstüchtig daran sein, dass ein Kind Pfand sammelt?
       Darunter bestimmt auch Flaschen, in denen Alkohol war.
       
       Auf einmal ist das Sammeln kein produktives Alleinsein mehr. Ein kindliches
       Spiel, das Erwachsensein auszuprobieren. Es hat etwas Einsames. Aus einer
       Not Entstandenes. Müsste dieses Kind jetzt nicht mit den anderen Kindern
       zusammen spielen, vielleicht so Deutsch lernen? Im April hieß es nach
       UN-Angaben, dass fast zwei Drittel aller ukrainischen Kinder [3][auf der
       Flucht] seien. Was hat dieses Mädchen zurückgelassen? Ihre Familie,
       Haustiere, Spielsachen, Freunde?
       
       Wieder eine Geschichte. Wenn sie stimmt, wäre das Kind eines von vielen,
       hier an einem neuen, fremden Zufluchtsort. Wie wird es mit ihr weitergehen?
       Das Mädchen fährt fort, nimmt eine Flasche auf, schüttet Flüssigkeit aus,
       rollt weiter allein durch den Park.
       
       18 Jul 2022
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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