# taz.de -- Von der Rückkehr der Nähe: Berührung ist vieles
       
       > In den Corona-Jahren haben wir viel über Sicherheitsabstand und Distanz
       > gesprochen. Weniger ein Thema ist jedoch, wie wir Nähe jetzt wieder
       > lernen.
       
 (IMG) Bild: Bild aus vorpandemischen Zeiten: Besucher*innen auf dem Weltjugendtag 2016 in Brzegi in Polen
       
       Ein Freund und ich laufen an der Alster entlang. Die Sonne scheint. Das
       Wasser glitzert. Einige Segelboote sind unterwegs. Ich spüre Leichtigkeit.
       Es ist ein stiller Morgen, der Weg ist frei. „Da war ein Mann mit einem
       Schild. Hast du ihn gesehen? ‚Please more hugs‘ oder so stand darauf“, sagt
       der Freund. Ich drehe mich um. Da geht ein eleganter Mann am Alsterweg. In
       der Hand das Schild. Er sieht ambitioniert aus, aber nicht suchend. Ein
       Mensch, der etwas unauffällig sendet. Wir überlegen kurz, ob wir ihn
       umarmen sollen.
       
       „Ich schwitze zu stark“, sagt der Freund. „Das wäre unangenehm für ihn.“
       
       Da hat uns der Mann schon entdeckt. „Was meinen Sie mit dem Schild?“, frage
       ich.
       
       „Wollen Sie eine Umarmung?“, fragt er. Ich drehe mich nach dem Freund um.
       Er steht etwas abseits. Ich nicke und gehe auf den Mann zu.
       
       Er lächelt freundlich. Seine Augen leuchten. Gedanken schwirren durch
       meinen Kopf. Ich hoffe, dass seine Absichten nur gute sind. Dass er mich
       nicht zu lange oder unangenehm umarmt.
       
       Wann habe ich das letzte Mal überhaupt einen völlig fremden Menschen
       richtig umarmt?
       
       Wir gehen aufeinander zu. Es sind nur ein paar Sekunden. Aber das Gefühl
       ist ähnlich, wie wenn man auf dem Dom kurz vor dem Start eines
       Fahrtgeschäfts steht: Okay, gleich geht es also los. Wie wird es sein? Will
       ich das überhaupt? Warum habe ich mir das bloß freiwillig ausgesucht? Dann
       umarmen wir uns.
       
       Umarmungen können ja alles sein. Zangenhafte Berührungen auf Abstand, die
       hölzern sind und distanzierter wirken als ein Händedruck. Oder innige
       Umarmungen, die einem Kraft und Liebe schenken. Diese Umarmung ist neutral.
       Der Mann drückt mich noch einmal, dann ist es vorbei.
       
       „Danke für die Umarmung“, sagt er. Er hat einen niederländischen Akzent.
       
       „Warum machen Sie das“, frage ich.
       
       „Nähe ist wichtig“, sagt er. „Darauf möchte ich aufmerksam machen. Wir
       haben [1][die Nähe verlernt] in den letzten Jahren mit Corona. Aber
       [2][Nähe ist so wichtig] für uns Menschen wie Essen und Schlaf.“
       
       Ich überlege kurz, wie sich dieser Mann in der Pandemie wohl positioniert
       hat. War er ein Coronaleugner? Dann schiebe ich den Gedanken weg. Wir
       laufen weiter.
       
       Später denke ich noch einmal über die Begegnung nach. An was für eine Nähe
       will der Mann erinnern? Und wie sind wir uns eigentlich nah gekommen nach
       den Maßnahmen? Es ging ja dann doch wieder so schnell.
       
       Wir haben so lange Nähe gemieden. Viel über 1,5 Meter
       [3][Sicherheitsabstand und Distanz gesprochen]. Jede Person hatte ihre
       Meinung und ihren Umgang dazu, wie wir uns distanzieren. Doch wie wir Nähe
       jetzt wieder lernen, ist weniger Diskurs. Es ist, als wäre ein Gummiband
       weit zurückgedehnt worden und würde jetzt wieder zurückspringen. Viele sind
       einfach wieder dazu übergangen, sich zu umarmen, die Hand zu geben, nah
       beieinander bei Veranstaltungen zu stehen. Fast, als hätte es das Davor
       nicht gegeben.
       
       Jetzt beginnt die Zeit, in der ich schon staunend auf die Zeit
       zurückblicke. Ich erinnere mich, wie zwei Menschen auf dem Bürgersteig
       voreinander ausgewichen sind, wie mich eine Frau an der Supermarktkasse
       gebeten hat, zurückzutreten. Und ich mit völligem Selbstverständnis
       reagiert habe und da doch auch immer dieser kleine Stich war, für andere,
       weil ein Mensch, per se potenziell gefährlich zu sein.
       
       Jetzt sind wir wieder in der Nähe, aus der wir gekommen sind. Oder sind wir
       doch woanders? Ist es eine andere Nähe? Eine gute Nähe? Oder ging das alles
       zu leicht, zu schnell? Müssten wir uns nicht auch in der Nähe annähern?
       Damit sie im übertragenen Sinne nicht oberflächlich bleibt, sondern tief
       ins Gewebe dringt? Please more hugs.
       
       Brauchen wir denn Umarmungen, um uns nahe zu sein? Ja, Berührung ist
       wichtig. Doch Berührung ist vieles. Auch in körperlicher Nähe kann Distanz
       liegen.
       
       Einen Raum der Stille zusammenzuhalten, kann intensiver als eine schnelle
       Umarmung sein. Jemandem wirklich zuzuhören. Gemeinsam zu lachen. Das alles
       ist das auch. Nähe.
       
       23 Aug 2022
       
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