# taz.de -- Krimi-Roman auf Sardinien: Schräge Vögel auf kargen Bergen
       
       > Gesuino Némus erzählt in „Süße Versuchung“ von einer Kriminalgeschichte
       > auf Sardinien. Manches darin ist verworren – doch es lohnt sich.
       
 (IMG) Bild: Schauplatz von „Süße Versuchung“: die Insel Sardinien
       
       Es würde zu kurz greifen, den Stil von Gesuino Némus, der in Wirklichkeit
       Matteo Locci heißt, „skurril“ zu nennen. Eine gesichtslose Gestalt namens
       Gesuino Némus geistert auch durch dieses Buch, in der Nebenfigur des
       Dorfirren, der manchmal literarisch wertvolle Texte schreibt, die dann vom
       offiziellen Dorfpoeten als dessen eigene ausgegeben werden.
       
       Diese Metaebene mitbedenkend, versteht sich, dass vieles in diesem Roman
       nicht so ist, wie es scheint. Die Übergänge zwischen „skurril“, „absurd“
       und „verdächtig“ sind ebenso fließend wie die zwischen den extremen
       Klimazonen auf der Insel, „auf der man“, wie es an einer Stelle heißt, „von
       Südtiroler Winterlandschaften bis zu tropischen Verhältnissen wie in
       Polynesien innerhalb einer halben Autostunde alles erleben konnte, solange
       man ein versierter Fahrer war“.
       
       Kommissar Marzio Boccinu verschlägt es in das einsam gelegene
       [1][sardische] Bergdorf Telévras, nachdem in der Nähe ein Auto mit einer
       toten Französin darin an einem Abhang gefunden wurde. Kurze Zeit später
       erschießt sich der neugewählte Vorsitzende des Heimatvereins. Während der
       erste Todesfall rätselhaft ist und bleibt, umso mehr, als die Verunglückte
       offenbar von niemandem vermisst wird, scheint beim zweiten eindeutig
       Selbstmord vorzuliegen, obwohl auch hier ein Motiv fehlt.
       
       Dabei schien es am Anfang eigentlich so, als ob es um Politik ginge, soll
       doch in der strukturschwachen Region ein Gefängnis für Schwerverbrecher aus
       ganz Italien gebaut werden. Und dazu haben die Mitglieder des Heimatvereins
       durchaus unterschiedliche Ansichten …
       
       ## Der Kommissar steigt aus
       
       Aber nachdem all das passiert und erzählt ist, hört der Roman für eine
       Weile einfach ein bisschen auf, Krimi zu sein. Erfolglos in seinen
       Ermittlungen, quittiert Marzio Boccinu den Polizeidienst, um sich in
       Telévras niederzulassen. Er lebt billig in einem alten Häuschen, das ihm
       der Dorfpoet vermietet, unternimmt lange einsame Wanderungen, verkommt
       äußerlich zusehends und verbringt viele Abende in der Dorfbar, deren
       Betreiber legendären Selbstgebrannten ausschenkt.
       
       Schließlich ereilt den Kommissar in dieser Abgeschiedenheit auch noch die
       Liebe; aber ehe es zu einem Happy End kommen kann, nimmt das kriminelle
       Geschehen wieder an Fahrt auf. Und man könnte beginnen, an den ehrlichen
       Absichten des Marzio Boccinu zu zweifeln, der vielleicht doch ein bisschen
       zu gut bekannt ist mit einem russischen Hehler, bei dem sich zu
       Fantasiepreisen allerlei zweifelhafte Waren, darunter auch scharfe Waffen,
       erwerben lassen.
       
       Es gibt so manches in diesem Roman, das durchaus verwirrend, um nicht zu
       sagen verworren, ist, aber diese Leserverwirrung liegt unbedingt in der
       Absicht des Autors, der mit der Einführung zusätzlicher Textebenen sogar
       noch mehr erzählerische Abweichung stiftet. Und doch biegt die Handlung
       irgendwann ganz organisch wieder ein auf eine narrative Zielgerade, an
       deren Wegesrand alle Verbrechen zufriedenstellend aufgeklärt werden und
       auch sonst manches ins Lot kommt.
       
       Kurz: „Süße Versuchung“ ist ein Roman, der mit herkömmlicher Genreware
       phasenweise gar nicht so viel zu tun hat. Aber wer sich auf des Autors
       kriminell abweichendes Spiel einlässt, kann ein echtes Lesevergnügen
       erleben.
       
       21 Aug 2022
       
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