# taz.de -- Neue Spielzeit an Berliner Volksbühne: Die Show von der Tragik im Wasser
       
       > Frauen besetzen die literarischen Bilder, in denen sie schon immer
       > vorkamen. Kann die Berliner Volksbühne sich mit Florentina Holzinger neu
       > erfinden?
       
 (IMG) Bild: Der Ruf des Krassen: Florentina Holzinger
       
       Schau dir das an, diese wilden Weiber. Flattern erst in den Lüften, an
       Gurten aufgehängt, und ihre schönen biegsamen Körper, unbekleidet, streifen
       kurz die Posen barocker Deckengemälde. Unter ihnen ist Wasser in einem
       Becken im Boden der Berliner Volksbühne. Über ihnen schwebt ein Helikopter.
       „Mayday, Mayday“, ruft die Pilotin, die Frauen entern die Maschine, der
       Sound schwenkt auf Katastrophenfilm, ihre Bewegungen werden ekstatischer
       und deuten am Rumpf und am Heck mit kopulierenden Gesten einen gewaltigen
       Orgasmus an.
       
       Wir befinden uns wo? In einer James-Bond-Fantasie? In den Bildträumen eines
       Herrenmagazins? Oder bei Dykes on Bikes? Etwas von all dem hat diese von
       Thrill durchzogene Szene in Florentina Holzingers Performance „Ophelia’s
       Got Talent“, die am Donnerstag Premiere in der Volksbühne Berlin hatte.
       Frauen besetzen hier Bilder, in denen sie schon immer vorkamen, und teils
       die männlichen Rollen oft mit dazu. Aber diesmal sind sie die Autorinnen
       der Bilder.
       
       [1][Holzinger] eilt der Ruf des Effektvollen und Krassen voraus. Die
       Uraufführung ist ihr zweites Stück an der Berliner Volksbühne, seit René
       Pollesch die Intendanz übernommen hat. Zusammen mit der Autorin [2][Lydia
       Haider] und der Musikkuratorin Marlene Engel bildet sie so etwas wie das
       feministische Aushängeschild der Volksbühne.
       
       Die braucht dringend ein neues Bild davon, wofür sie als größte
       Schauspielbühne Berlins eigentlich steht. Bei einem [3][Pressegespräch
       stellte das Team seine Pläne] vor, teils allerdings in einem etwas
       insiderischen Jargon. Holzingers Projekt gehört zum Aufwendigsten und
       Teuersten, was das Haus in dieser Spielzeit macht, nicht zuletzt wegen drei
       Wasserbecken auf der Bühne.
       
       So stand vor der Uraufführung auch Misstrauen im Raum: gegenüber Holzingers
       Lust an der Verschwendung und am technischen Aufwand, die quer steht zur
       neuen Suche nach ressourcenschonender Produktion, auch in den Künsten.
       Gegenüber den visuellen Oberflächenreizen und Schockeffekten, die sie
       nutzt. Gegenüber einem Feminismus, der immer auch etwas Plakatives hat.
       
       ## Ein großes Spektakel
       
       All das stimmt, aber dennoch ist ihre Show ein Spektakel, das viele
       Bedenken dann wieder hinwegfegt. Das liegt viel an den Performerinnen und
       Artistinnen, darunter eine Akrobatin am Vertikalseil, eine
       Schwertschluckerin (Fibi Eyewalker), die auch einen Schlauch mit Kamera
       schluckt und an der tollen Saioa Alvarez Ruiz, einer kleingewachsenen
       Schauspielerin mit ungeheurer Präsenz und selbstironischer Sicherheit. Mit
       ihnen kommen eher theaterferne Show- und Traumwelten auf die Bühne, die
       etwas Lautes und Rohes haben.
       
       In der Musik und in den Bildern gibt es Zitate von Filmen. Das Titelmotiv
       aus „Der weiße Hai“ prallt auf Schuberts „Die Forelle“. Ein gewisser
       Captain Hook, vertrauenswürdig wie Jack Sparrow, gibt den Master of
       Ceremonies. Die Kamera, die von oben in das größte Wasserbecken schaut,
       erinnert an die von oben gefilmten Wasserballette in den Musicals von Busby
       Berkley.
       
       All das ist zunächst ein Potpourri, lose verbunden über das Wasser als
       Thema und Schauplatz. Zwar erhält man mit dem Besetzungszettel auch ein
       Glossar mit den weiblichen Figuren, die in der Literaturgeschichte
       tragische Verbindungen mit dem Wasser eingingen: Melusine, Undine,
       Meerjungfrau, Loreley. Doch deren Spuren, die das Stück in der Vorstellung
       durch Holzinger verfolgen wollte, sind nur ansatzweise kenntlich auf der
       Bühne.
       
       ## Leda und der Schwan
       
       Bis auf die Episode von Leda und dem Schwan. Thema der klassischen
       Mythologie und Erzählung über eine Vergewaltigung, die ein Gott in
       Schwanengestalt an der schönen Leda beging. Eine Frau mit Schwanenkopf
       steht im Wasser vor einer zweiten, die wie auf einem gynäkologischen Stuhl
       positioniert ist. Diese erzählt von einer Vergewaltigung als junge Frau,
       durch ihren Tätowierer.
       
       Eine schwer zu ertragende Szene, die auch in ihrem Gestus des Authentischen
       aus den Showformen herausfällt. Und doch erzählt die Performerin ja nichts
       anderes, als was in der Mythologie und der Kunst zum gut konsumierbaren
       Bild geworden ist.
       
       Wenn die Show ein zweites Mal von einer intimen Erzählung unterbrochen
       wird, ist es Florentina Holzinger selbst, die von ihrer Magersucht mit zehn
       Jahren erzählt, der Zwangsernährung im Krankenhaus. Aber bevor es zu
       dramatisch wird, wischt sie das wieder beiseite, das sei eben die Zeit von
       Grunge gewesen. Damit legt sie sicher eine Spur zu ihrer Besessenheit für
       Körperbilder, zu der Einbeziehung von Selbstverletzungen auf der Bühne, die
       auch hier wieder Teil sind und eigentlich überflüssig wirken.
       
       ## Kompliziertes Produktionsmodell
       
       Mehr als die literarischen Zitate geben diese beiden ungeschützten
       Erzählungen einen Spannungsrahmen. Tief unter den vielen protzigen Gesten
       der Selbstermächtigung liegt ein Unglück, das die kulturelle Bildproduktion
       über das Weibliche immer wieder neu hervorgebracht hat und hervorbringt.
       
       An der Produktion von „Ophelia’s Got Talent“ sind neben der Volksbühne
       sieben weitere Partner, Theater und Festivals beteiligt, sie wird also auch
       in Wien, Antwerpen, Hamburg, Rotterdam und Zürich zu sehen sein. Solche
       Produktionsmodelle waren eigentlich das Konzept von Chris Dercon, der als
       ungeliebter Intendant der Volksbühne wieder gehen musste. Zu einem Haus,
       dessen Markenkern das schauspielerische Ensemble ist, wie unter Castorf,
       wird die Volksbühne wohl auch unter Pollesch nicht werden.
       
       16 Sep 2022
       
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 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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