# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Das Material der Emotion
       
       > cameron clayborns Skulpturen im Hamburger Bahnhof sind wesenhaft, mächtig
       > und kommunikativ. Vinzens Sala zeigt Filme von Crachmacheur Frieder
       > Butzmann.
       
 (IMG) Bild: Einfache Materialien mit glamoröusen Effekten: cameron clayborn im Hamburger Bahnhof
       
       Was da an der Decke hängt! Kaum, dass man es bemerkt. Sobald das aber
       passiert ist, beschäftigt das kleine Gebilde die Aufmerksamkeit umso mehr.
       Denn was ist das nur, was da so aufgeweckt in die Gegend schaut? Lustige
       kleine Vögel mit spitzen Schnäbeln? Dazu undeutbar heitere Wesen mit rundem
       Maul? Und dann liest man, dass es sich um getrocknete Orangenschalen
       handelt! Uff. Die hellwachen Augen sind die Trockenschrauben, mit denen die
       Schalen an der Decke befestigt sind. Trotzdem, gerade weil man sich, beim
       Anthropomorphisieren ertappt, ein bisschen lächerlich vorkommt: Die kleine
       Installation, die cameron clayborn hoch oben im ersten Saal links im
       [1][Hamburger Bahnhof] angebracht hat, ist einfach eine freundliche
       herzerwärmende Angelegenheit.
       
       cameron clayborn, immer klein geschrieben, ist Träger:in des von den
       Baseler Versicherungen gestifteten [2][Bâloise Kunst-Preises] 2021. Der
       Preis will jungen Künstlerinnen und Künstlern Sichtbarkeit geben. Daher ist
       mit ihm ein Ankauf und die Schenkung an ein Museum verbunden – jetzt gehen
       zwei Plastiken aus der Serie „homegrown“ an die Sammlung der
       Nationalgalerie. Aus diesem Anlass hat Kurator Sven Beckstette die
       Ausstellung „nothing left to be“ organisiert, für die clayborn eigens
       fünfzehn neue Skulpturen und siebzehn Zeichnungen geschaffen hat. Wie schon
       „orange peels“ (2022) andeutet, arbeitet clayborn gerne mit einfachen
       Materialien wie Papier, Füll- und Dämmstoff, recycelter Kleidung, Vinyl,
       Federbügel. Für die nötigen Glamour-Effekte gibt es da und dort Perlen und
       goldfarbene Bronze.
       
       Ob geometrisch oder biomorph, ob freistehend oder an der Wand angebracht,
       ob riesig oder klein, clayborns skulpturales Werk übersetzt, wie day (so
       ersetzt clayborn als nonbinäre:r Künstler:in Personal- und
       Possessivpronomen) selbst sagt, days Emotionen in Form. Darin – und nicht
       nur über die Materialien und eben die Form – erinnern die Arbeiten an das
       Werk von Louise Bourgeois. clayborns Skulpturen und Zeichnungen treten aber
       deutlich freundlicher auf als etwa Bourgeois’ „The Woven Child“ im Gropius
       Bau.
       
       Die Skulpturen wie „homegrown #1“ und „homegrown #2“ hängen wie Kokons von
       der Decke, wirken dabei aber doch mächtig, abwehrbereit mit den
       perlengeschmückten Auswüchsen, die gleichzeitig doch wie die kommunikativen
       Tentakel der monumentalen Amöbe fungieren.
       
       ## 50 x Frieder Butzmann
       
       Man darf das nicht verpassen, wie Frieder Butzmann und Thomas Kapielski,
       zwei weiße, alte Männer von freiem unbeschwertem Geist „Die Schranknummer“
       (2022) aufführen. Beide stehen im Freien, für die instrumentale Version
       spielt Butzmann auf einem Keyboard, während Kapielski Pfeifgeräusche macht.
       Er hält eine dünne Schnur, die mit einem weißen Ikeaschrank verbunden ist.
       Die Musik steigert sich, Kapielsi zieht an der Schnur und Krach, der
       Schrank fällt um. Nachdem er mit Hilfe eines wesentlich jüngeren weißen
       Mannes wieder aufgerichtet wurde, artikulieren Butzmann und Kapielski für
       die vokale Version ziemlich unerklärliche Töne und Geräusche. Kapielski
       zieht an der Schnur und der Schrank fällt mit Getöse um. Für die lautlose
       Version schließlich halten die beiden Herren die Klappe, dann zieht
       Kapielski an der der Schnur und der inzwischen ziemlich ruinierte Schrank
       fällt um – ohne jeden Ton.
       
       Nach dieser Vorführung sitzt man natürlich hocherfreut auf dem roten
       Samtsofa in der [3][Galerie Vincenz Sala] und schaut sich den Clip mit den
       6 Klingonischen Liedern an. Er stammt ebenfalls vom Anfang dieses Jahres,
       kongeniale Begleiterin von Butzmann ist jetzt Veronika Otto auf dem Cello
       und der Pferdekopfgeige. Bliebe man glatte fünf Stunden auf diesem Sofa
       sitzen, hätte man die Playlist aus über 50 Kurzfilmen und Clips durch, die
       der 1954 in Konstanz geborene Künstler und Musiker zusammengestellt hat.
       „Nebelkerzen in Dauerschleife“ kann als eine Art Retrospektive seines
       Schaffens als Musiker, Performer, Schauspieler und bildender Künstler
       betrachtet werden, oder als Crachmacheur wie Butzmann sich selbst nennt.
       
       Um ihn in aller Kürze vorzustellen, er hat in Berlin von 75 bis 82
       studiert, Musikwissenschaft und Psychologe, in Bands wie u. a. Die
       Nachdenklichen Wehrpflichtigen (zusammen mit Diedrich Diederichsen)
       gespielt, hat das Plattenlabel Zensor mit begründet, mit Throbbing Gristle
       zusammengearbeitet, ist später als Duo mit Thomas Kapielski weltweit
       getourt, weswegen er in Japan Insidern als Erfinder des deutschen
       Industriepunks gilt. Dass ihm alles zuzutrauen ist versteht man sofort,
       schaut und hört man auch nur eine halbe Stunde „Nebelkerzen“. Sehr
       empfehlenswert: „Street Music“, Geräusche, die man bald nicht mehr hören
       wird, im Zeitalter des Elektroautos.
       
       1 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/hamburger-bahnhof/home/
 (DIR) [2] https://art.baloise.com/de/home/baloise-kunst-preis.html
 (DIR) [3] https://www.vsala.com/Vincenz_Sala_home.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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