# taz.de -- Wahlen in Bosnien und Herzegowina: Etwas ganz anderes
       
       > Am Sonntag wird in Bosnien und Herzegowina gewählt. Eine jüngere
       > Politikergeneration rüttelt dabei an einem Grundprinzip des
       > Bundesstaates.
       
 (IMG) Bild: Bakir Izetbegović von der dominierenden SDA-Partei im Wahlkampf
       
       SARAJEVO taz | Gestern war er noch da, der Koch in dem Lieblingslokal in
       Sarajevo. Jetzt ist er weg. „Nach Österreich vielleicht“, sagt die
       Kellnerin. Sie fühlt sich selbst zu alt, um zu gehen. Inzwischen ist es
       schwierig geworden, in Sarajevo Handwerker zu finden. Und der Busfahrer,
       der noch vor Jahresfrist die Gruppe von taz-Reisenden durch das Land
       chauffiert hat, ist inzwischen mit seiner gesamten Familie und den drei
       kleinen Kindern nach Fürth umgesiedelt. Er ist mit Kusshand genommen
       worden. Die Busgesellschaft hat ihm eine Wohnung zur Verfügung gestellt.
       
       Nicht nur die Pandemie hat zu Einschnitten in der Versorgung Bosnien und
       Herzegowinas geführt. Aus den staatlichen Krankenhäusern sind viele
       ÄrztInnen und Krankenschwestern verschwunden. Allein im vergangenen Jahr
       sollen weit über 100.000 Menschen das Land Richtung EU verlassen haben. Das
       Thema wühlt auf und ist zu einem wichtigen Streitpunkt im Wahlkampf
       geworden.
       
       [1][Der 50-jährige Edin Forto], der Vorsitzende der sozialliberalen und
       multiethnischen Partei Naša Stranka (Unsere Partei) erklärte am Mittwoch
       während einer Fernsehdiskussion: „Wer will schon in einem Land leben,
       dessen Entwicklung von Nationalisten behindert und blockiert wird?“
       
       Man müsse endlich Perspektiven und gesicherte Verhältnisse für die Menschen
       im Lande schaffen. Er steht mit seiner Kritik nicht allein. Auch
       Sozialdemokraten wie der aufsteigende Politiker Saša Magazinović fordern
       endlich einen grundlegenden Politikwechsel in dem Land, dessen Entwicklung
       jahrzehntelang von nationalistischen Parteien dominiert worden ist.
       
       ## Widersprüchliche Zivilgesellschaft
       
       Magazinović kann nur lachen, wenn [2][der serbische Nationalistenführer
       Milorad Dodik] behauptet, Serben und Bosniaken könnten nicht zusammenleben.
       Er ist selbst Serbe und wurde in einem von Bosniaken dominierten Stadtteil
       in Sarajevo 2018 mit großer Mehrheit ins Parlament der
       bosniakisch-kroatischen Föderation gewählt. Und auch die eher konservative,
       aber ebenfalls für ein multiethnisches Bosnien eintretende Vorsitzende der
       bosniakischen Partei „ Narod i Pravda“, (Volk und Wahrheit), Elmedin
       Konaković, bläst ins gleiche Horn.
       
       Diese drei sind Politiker der sogenannten Troika, der es gelungen ist, bei
       den Kommunalwahlen vor zwei Jahren die Mehrheit im Stadtparlament gegen die
       muslimische Nationalpartei SDA zu gewinnen und eine Koalition zu bilden.
       Die jetzige erst 31-jährige Bürgermeisterin und Sozialdemokratin Benjamina
       Karić symbolisiert den Politikwechsel durch eine neue, unbelastete,
       progressive Politikergeneration, die durchaus in der Lage ist, das Schiff
       Bosnien und Herzegowina in eine neue Richtung zu steuern. Zumindest in den
       von Bosniaken dominierten Landesteilen, in der auch die Mehrheit der
       Gesamtbevölkerung Bosnien und Herzegowinas lebt.
       
       Flankiert wird diese Parteienkonstellation durch eine widersprüchliche,
       aber lebendige Zivilgesellschaft aus Künstlern, Umweltaktivisten und
       Frauengruppen. Dazu gehören auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde,
       Jakob Finci und [3][der Vorsitzende der Roma-Organisation Dervo Sejdić]
       sowie die Bürgerrechtlerin Azra Zornić, die alle drei gegen die bisherige
       Verfassung beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ihre Bürgerrechte
       eingeklagt haben und gewonnen haben. Doch bisher wurden die vor einem
       Jahrzehnt gefällten Urteile nicht umgesetzt.
       
       Die Zivilgesellschaft und die nicht-nationalistischen Parteien fordern dies
       und damit einen Bürgerstaat, in dem die individuellen Rechte der einzelnen
       Bürger gewahrt sind und Diskriminierungen auch beim Wahlrecht wegfallen.
       
       Sie greifen damit scharf das im Abkommen von Dayton 1995 von den
       Nationalisten durchgesetzte Prinzip der „konstitutiven Nationen“ an, in dem
       die kollektiven Rechte der Nationen Vorrang vor den individuellen
       Bürgerrechten haben. Es stehen sich also in Bosnien jetzt klar zwei
       Verfassungsprinzipien gegenüber, das nationalistische Modell mit all seinen
       negativen Konsequenzen in Bezug auf Bürgerrechte, Demokratie und
       Minderheiten und das Modell eines Bürger- und Rechtsstaates.
       
       Für dieses kämpfen jetzt die Troika, die Zivilgesellschaft und noch andere
       nichtnationalistische Parteien und Gruppierungen. Sie wollen ernsthaft
       gegen die Korruption der Nationalparteien vorgehen. Die Sozialdemokraten
       und ihre Bündnispartner haben zumindest in den Gebieten, die von Bosniaken
       dominiert werden, Aussicht, die bisher herrschende Position der
       muslimischen Nationalpartei SDA zu erschüttern. Denn die seit Jahrzehnten
       dominierende SDA (Partei der demokratischen Aktion) ist ins Wanken geraten.
       
       Ihr Vorsitzender, Bakir Izetbegović, der für das Amt des bosniakischen
       Vertreters im dreiköpfigen Staatspräsidium kandidiert, und seine Frau
       Sebija sind ins Zentrum der Kritik vor allem in der Hauptstadt Sarajevo
       gerückt. Ihr autokratischer Stil, die Verschleierung der Korruption der
       SDA-Partei, die dubiosen Zeugnisse der Ärztin Sebija Izetbegović, die von
       ihrem Mann zur Leiterin des einstmals renommierten Kosevo-Krankenhauses
       gemacht wurde, hat die beiden selbst bei vielen Anhängern in Misskredit
       gebracht.
       
       Die muslimische Nationalpartei ist zwar niemals wie die kroatischen und
       serbischen Nationalisten für die ethnisch-nationalistische Aufteilung des
       Landes eingetreten – sie hat die territoriale Integrität des Landes immer
       verteidigt –, aber sie ist in den letzten Jahrzehnten viele Kompromisse mit
       den beiden anderen Nationalparteien eingegangen. Im Dunkel von „schmutzigen
       politischen Deals“ zwischen diesen Kräften wurden undurchsichtige Geschäfte
       getätigt zum Vorteil der Parteiführungen. Diese Korruption belastet jetzt
       die SDA-Partei und damit auch Bakir Izetbegović.
       
       ## Enormer Mitgliederschwund
       
       Unterstützt wird er allerdings weiterhin von vielen gläubigen Muslimen, die
       in der Partei immer noch einen Schutzschild für sich selbst sehen. Er
       profitiert immer noch von dem Ruf seines Vaters Alija Izetbegović, der
       während des Krieges Präsident eines Landes war, das von serbischen und ab
       1993 auch von kroatischen Truppen angegriffen wurde. Alija wollte die
       damals die nicht besonders religiöse Bevölkerungsgruppe der bosnischen
       Muslime zu echten Gläubigen erziehen. Das ist ihm auch teilweise gelungen,
       und das ist die Bevölkerungsgruppe, die nach wie vor zu Izetbegović stehen
       sollte. Aber auch das ist fraglich geworden.
       
       Denn viele Mitglieder sind in den letzten Jahren ausgetreten. Viele davon
       wiederum haben sich in der Partei „Narod i Pravda“ (Volk und Wahrheit)
       organisiert und kämpfen nicht nur in den Städten, sondern auch in den
       konservativen muslimischen Dörfern gegen die Korruption der SDA und wollen
       der SDA viele Stimmen wegnehmen. Wenn das gelingt, würde die Troika weiter
       gestärkt und damit die proeuropäisch-demokratischen Kräfte im ganzen Land.
       
       Auch in der serbischen Teilrepublik tut sich etwas. Denn der für das
       Präsidentenamt kandidierende Milorad Dodik hat in der Liberalen Jelena
       Trivić eine ernsthafte Konkurrentin erhalten, die je nach Umfrage mal vor
       oder hinter ihm liegt. Doch es ist kaum anzunehmen, dass es in Banja Luka
       einen Umsturz geben wird.
       
       In den kroatischen Kantonen hat die ethno-nationalistische HDZ-Partei unter
       Dragan Čović alles im Griff. Unwägbar ist allerdings, ob die HDZ Kandidatin
       in das dreiköpfige Präsidentenamt gewählt wird.
       
       „Alle drei, Čović, Dodik und Izetbegović müssen weg“, fordern nicht nur die
       Troika und die Zivilgesellschaft. Viele Menschen in Bosnien wollen
       Veränderungen.
       
       30 Sep 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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