# taz.de -- Krisen der Gesellschaft: Können wir uns Zukunft vorstellen?
       
       > Ein bisschen Umverteilung, das zeigt die Krise der Linken, reicht nicht
       > mehr. Es geht jetzt darum, eine andere Idee von Fortschritt zu
       > entwickeln.
       
 (IMG) Bild: Ein Luftballon an einem schönen Tag. Für die Linke sieht es dagegen derzeit eher düster aus
       
       Als Kolumnist und professioneller Rum-Meiner sollte man es vermeiden,
       eigene Texte aus der Vergangenheit nochmal zu lesen. Zeitung ist Gegenwart,
       und LeserInnen bezahlen für die Einordnung ebendieser. Vorwärts immer,
       rückwärts nimmer, der Satz von Erich Honecker gilt für jede Zeitung, auch
       die FAZ. Und wenn man mal daneben liegt? Früher hieß es in Redaktionen: Das
       druckt sich weg. Oder im Radio: Das versendet sich. Heute gibt es das
       Internet.
       
       Dieses Internet stupste mich vor Kurzem auf einen Artikel, den ich
       geschrieben haben soll. Der Artikel heißt, jetzt kommt’s, bitte nicht
       lachen: „[1][Die beste Zeit der Linken kommt erst noch]“. Das war eine
       steile These, eine Woche nach der Niederlage bei der Bundestagswahl. Elf
       Monate und einen Angriffskrieg später klingt die These nicht mehr steil,
       sondern flach.
       
       Manches stimmt noch, was da steht: Die soziale Frage findet bei der Ampel
       kaum statt. Und die fossile Preisexplosion zeigt, wie nötig eine Opposition
       links der Ampel wäre. Warum profitiert die Linke nicht von dieser
       Leerstelle?
       
       ## Warum bleibt der Herbst so kalt?
       
       Zwei meiner lieben KollegInnen haben mir gesagt, ich soll auf keinen Fall
       nochmal über das Fossil namens Linkspartei kolumnieren. Und es gab
       tatsächlich schon genug Abgesänge. Aber keine Sorge, hier soll es um
       größere Fragen gehen: Warum bleibt der heiße Herbst bisher ziemlich kalt?
       Warum gibt es keine Bewegung gegen die hohen Preise, für einen
       Gaspreisdeckel und Umverteilung? Und warum kann selbst der Klimastreik kaum
       noch bewegen? Es wäre ein bisschen einfach, die Schuld für all das Sahra
       Wagenknecht zu geben.
       
       Das Problem der Linken innerhalb und außerhalb des Parlaments ist größer.
       Der Linken fehlt keine progressive Frontfrau in Talkshows. Sondern eine
       Erzählung von der Zukunft. Die haben andere Parteien auch nicht. Aber
       während es denen reicht, den Menschen zu versprechen, dass es wieder so wie
       früher wird, muss die Linke mehr bieten.
       
       ## Wirtschaftswunder ist vorbei
       
       In der vergangenen Woche erschienen zwei kluge Texte, einer natürlich in
       der taz. Und nachdem man beide gelesen hat, will man sich am liebsten
       wieder hinlegen. Nicht weil sie einschläfernd, sondern weil ihre Analysen
       deprimierend einleuchtend sind.
       
       Meine Kollegin Ulrike Herrmann [2][hat sich vom Kapitalismus
       verabschiedet]: Kapitalismus basiere auf endlosem Wachstum, und das sei mit
       Klimaschutz unvereinbar. Da hilft kein Windrad und auch keine Wärmepumpe.
       Die nächste Phase, so Herrmann, werde eine „Überlebenswirtschaft“ sein.
       
       Der andere kluge Text ist von dem Soziologen [3][Andreas Reckwitz im
       Spiegel]. Reckwitz schreibt, dass wir uns in unserer Vorstellung von
       Normalität an einer historischen Ausnahme festhalten, die vorbei ist: Die
       Zeit des Wirtschaftswunders, in der viele Menschen zu Wohlstand kamen.
       Heute fehle der Gesellschaft eine Vorstellung von Fortschritt und Zukunft.
       
       ## Bisschen Umverteilung reicht nicht
       
       Was folgt daraus? Welchen Grund könnte es geben, doch wieder aufzustehen?
       
       Ein bisschen Umverteilung, das zeigt die Krise der Linken und der LINKEN,
       reicht nicht mehr als Erzählung. Ein Gesellschaftssystem, das seine eigene
       Grundlage zerstört, eine Ordnung, in der Menschen frieren, obwohl die Erde
       brennt, ist einfach nicht mehr überzeugend. Noch gilt, dass uns das Ende
       der Welt realistischer erscheint als das Ende des Kapitalismus. Aber je
       näher Ersteres kommt, desto attraktiver wird Letzteres.
       
       25 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nach-der-Bundestagswahl/!5802786
 (DIR) [2] /Kapitalismus-und-Klimaschutz/!5879301
 (DIR) [3] https://www.spiegel.de/politik/zeitenwende-eine-zukunft-ohne-fortschritt-ein-debattenbeitrag-a-2d99303b-9a4e-4e7c-86cb-fc1fb1458e79
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kersten Augustin
       
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