# taz.de -- Wachstum und Klimakrise: Grüner Kapitalismus, rote Paprika
       
       > Hat Ulrike Recht – oder stimmt doch, was Malte sagt? Unser Kolumnist
       > fühlt sich manchmal wie ein Fähnchen im Wind.
       
 (IMG) Bild: Ein mit sich zufriedener Markus Söder als Hilfskraft bei der Münchner Tafel
       
       Manchmal kommt es mir so vor, als sei ich ein Fähnchen im Wind. Bei großen
       Fragen, bei denen ich nicht weiß, was ich denken soll, lese ich einen Text
       oder höre einen Podcast und nicke und denke, ja richtig, so ist es. Und
       dann lese ich einen anderen Text mit entgegengesetzter Meinung und denke
       wiederum: Ja, stimmt, genau so.
       
       Kann es grünes Wachstum geben?, ist so eine Frage. Darüber gibt es in der
       taz gerade eine Debatte. Und ich bin dankbar, in einer Redaktion zu
       arbeiten, in der viele kluge Menschen kluge Dinge schreiben oder im
       [1][Bundestalk] erzählen, dem Podcast der taz. Ich versuche hier eine sehr
       verkürzte Zusammenfassung der kontroversen Debatte:
       
       Meine Kollegin Ulrike Herrmann, bekannt aus Funk und Fernsehen,
       [2][argumentiert], dass [3][grünes Wachstum] nicht möglich ist: Die
       Weltwirtschaft benötige viel zu viel Energie, um diese günstig und
       erneuerbar produzieren zu können, außerdem fehlten Speicher.
       
       Mein bereits arg vermisster ehemaliger Kollege Malte Kreutzfeldt [4][hält
       dagegen], verweist auf das exponentielle Wachstum beim Ausbau der
       Erneuerbaren und darauf, dass diese effizienter genutzt würden.
       
       ## Und dann sehe ich Markus Söder
       
       Und zuletzt schrieb meine Chefin Barbara Junge in der ersten wochentaz,
       dass der Kapitalismus uns zwar die Klimakrise eingebrockt habe, [5][aber
       nur er uns wieder retten könne], indem Institutionen wie die Weltbank die
       Investitionen in Erneuerbare global finanzierten.
       
       Und ich lese das alles und nicke und nicke. Und dann wechsle ich zu einer
       anderen Seite im Browser, und ich sehe Markus Söder, [6][wie er in einer
       Schürze der Münchner Tafel für die Kameras posiert]. Söder verteilt
       schrumpliges Gemüse an Bedürftige und verkündet stolz, dass seine Regierung
       die Tafeln nun stärker unterstütze. Als sei das für eine Regierung ein
       Erfolg und kein wortwörtliches Armutszeugnis. Die Zahl der Menschen, die in
       Deutschland zu einer Tafel gehen, ist seit dem vergangenen Jahr um 50
       Prozent gestiegen.
       
       Und dann schalte ich das Radio an und höre eine Reportage über die Tafeln
       in Großbritannien. Es geht um eine Frau, deren Tochter immer Lebensmittel
       mitbringt, wenn sie zu Besuch kommt. Weil ihre Mutter nichts für sie kochen
       könne. Sie ist eine derjenigen, die sich entscheiden müssen: „heat or eat“.
       
       Und dann möchte ich nicht mehr darüber nachdenken, ob grünes Wachstum
       möglich ist. Dann möchte ich Markus Söder die schrumplige Paprika aus
       seiner Hand nehmen und damit sein selbstgefälliges Grinsen abreiben. Ich
       will keinen grünen Kapitalismus. Und auch keinen sozialdemokratischen,
       keinen fossilen.
       
       Die Überzeugungskraft des Kapitalismus bestand darin, dass er es eine
       beeindruckend lange Zeit schaffte, eine Mehrheit am geschaffenen Reichtum
       zu beteiligen, zumindest im Westen. Diese Zeit scheint mit dem Ende der
       billigen Energie vorbei zu sein. Wenn in England und Deutschland immer mehr
       Menschen nach Lebensmitteln betteln müssen und in ihren Wohnungen frieren,
       obwohl die Erde immer wärmer wird, hat dieses Wirtschaftssystem seine
       Berechtigung verloren.
       
       Nun gut, werden Sie sagen, Arme gab’s immer. Nur: jetzt ist auch die
       Mittelschicht dran. Die Natur kaputt machen zum eigenen Vorteil, das war
       für die Mehrheit lange Zeit okay. Aber wenn sich nicht mal mehr in
       Deutschland jede Familie mit mittlerem Einkommen ein Häuschen mit Heizung
       im Grünen leisten kann, ist der Spaß vorbei.
       
       Wieso sollte man ein System retten, das nicht funktioniert? Das weiß ich
       nicht. Und was danach kommen soll, weiß ich auch nicht. Ich hoffe, dass
       dazu bald schlaue Texte in der taz erscheinen, nach denen ich mein Fähnchen
       richten kann.
       
       20 Nov 2022
       
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