# taz.de -- Roman „Wir doch nicht“: Aufstand der Gebärmaschinen
       
       > Nora Burgard-Arps „Wir doch nicht“ spielt in Hamburg um das Jahr 2050. In
       > dem dystopischen Roman steckt mehr Gegenwart, als einem lieb ist.
       
 (IMG) Bild: Hat unter anderem das Parteiprogramm der AfD zu Ende gedacht: Die Autorin Nora Burgard-Arp
       
       Hat man einmal angefangen zu lesen, kann man das Buch kaum aus der Hand
       legen. Unangenehm genau wird beschrieben, wie sich Mathilda einen
       Kleiderbügel einführt, um eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. „Das
       kriegt ihr von mir nicht“, flüstert sie dabei.
       
       Mathilda ist 37 Jahre alt und die Protagonistin von Nora Burgard-Arps
       Debütroman „Wir doch nicht“, [1][dem das Thalia-Theater am 4. Oktober eine
       Buch-Premiere im Nachtasyl widmet]. Mathilda lebt in einer Diktatur, in der
       das Verhütungs- und Abtreibungsverbot nur eines der frauenfeindlichen
       Gesetze ist, die von der faschistischen Partei Sieg für Deutschland und die
       Deutschen, also SfDD, erlassen wurden.
       
       Ihre Abtreibung, die sie auch vor ihrem Mann verheimlicht, ist der Beginn
       einer inneren Auflehnung gegen das totalitäre Regime, das sich aus der
       Vorgängerpartei LfD – Lösungen für Deutschland – entwickelt hat.
       
       Der Roman spielt in Hamburg, etwa 30 Jahre in der Zukunft. In Rückblenden
       kann man mitverfolgen, wie der politische Wandel vonstatten ging. “Mir war
       es wichtig, keine komplett neue Welt zu erschaffen, sondern zu Ende zu
       denken, was passieren könnte“, sagt Nora Burgard-Arp. Auf das Thema sei sie
       unter anderem durch das Parteiprogramm der AfD gekommen, die mit Sätzen wie
       „Mehr Kinder statt Masseneinwanderung“ die rechtsradikale
       Verschwörungstheorie des „großen Austauschs“ nährten.
       
       Diese Idee findet sich auch in der Dystopie wieder, die Burgard-Arp
       entworfen hat: Frauen dürfen nur noch unter bestimmten Umständen arbeiten,
       hauptberuflich sind sie Gebärmaschinen. In den wöchentlichen,
       verpflichtenden Treffen des „Deutschen Frauenstammtischs“ werden sie
       gedrängt, Kinder zu bekommen, um eine drohende „Umvolkung“ abzuwenden.
       
       Sexualität dient nicht länger der Lust, zumindest nicht der der Frau,
       sondern der Produktion von Kindern. Mathilda aber möchte keine Mutter
       werden. Seit fünf Jahren lügt sie ihren Ehemann Finn an, was ihren Zyklus
       angeht. Auch die gesetzlich vorgeschriebene Zyklus-App, die jederzeit von
       der Regierung ausgelesen werden kann, füttert sie mit falschen Daten.
       
       Finn, der früher mal, in seinen eigenen Worten „einer von den Guten“ war,
       ist zu einem Patriarchen geworden, der in Mathilda vorrangig seine
       Bedienstete sieht. Er selbst ist Lehrer und unter anderem mit der
       „Entdigitalisierung“ der Schulen beschäftigt. Kindern unter 18 Jahren sind
       Smartphones und Computer verboten, einen unbeschränkten Zugang zum Internet
       haben ohnehin nur ausgewählte Männer. Im Verlauf des Buches steigt Finn
       über die SfDD-Lehrervereinigung in seinem Beruf auf, während Mathilda mit
       der Machtübernahme der SfDD ihren Traum einer Karriere als Journalistin
       aufgeben musste und seitdem Hausfrau ist.
       
       Feminist*innen, queere, Schwarze und rassifizierte Menschen haben bereits
       vor Jahren großteils das Land verlassen, darunter auch Mathildas Mutter und
       deren beste Freundin. Vergeblich hatten die beiden versucht, Mathilda zu
       überreden mitzukommen, bevor die Regierung fast alle Medien und die
       gleichgeschlechtliche Ehe abschaffte und mit „kontrollierten Rückführungen“
       derjenigen Menschen begann, deren „Abstammung“ nicht deutsch genug war.
       „Wenn man sich Rechtsextremismus anguckt, muss man neben Rassismus und
       Antisemitismus auch Queer-, Trans- und Frauenfeindlichkeit mitbetrachten“,
       sagt Burgard-Arp. Deshalb habe sie versucht, all diese Themen zusammen
       unterzubringen. „Ich konzentriere mich auf Frauenunterdrückung, aber ich
       wollte zeigen, dass all diese Themen dazugehören.“
       
       Auch Esoterik und Wissenschaftsfeindlichkeit sind ein Komplex, der in dem
       Buch behandelt wird. So wird Frauen ein Waldstück zugeteilt, in das sie
       mehrmals pro Woche zum Atmen gehen sollen. Das soll ihnen bei der
       Entspannung helfen. Bei Krankheit werden den Menschen Globuli verschrieben,
       auch Säuglinge lässt man gerne mal mit 40 Grad Fieber „ausfiebern“. Als
       sich die Verletzungen von der unsicheren Abtreibung entzünden, wird das
       Mathilda zum Verhängnis.
       
       Burgard-Arp beschreibt, wie das Leben in einer Diktatur die Beziehungen
       beeinflusst. Die Konflikte, die in Familien und Freundschaften auftreten,
       wenn die einen sich der neuen Regierung begeistert zuwenden, während die
       anderen ihr gegenüber kritisch eingestellt sind. Die Überraschung, wenn
       jemand, den man zu kennen glaubte, auf einmal einer faschistischen
       Ideologie anhängt, solange er davon profitiert. Das Misstrauen, das man
       allen anderen Menschen gegenüber entwickelt, wenn man selbst mit dem Regime
       nicht einverstanden ist.
       
       Nicht einmal bei ihrer besten Freundin aus Kindertagen weiß Mathilda, ob
       sie ihr sagen kann, was sie wirklich denkt – oder was sie getan hat. Die
       Einsamkeit, die aus dieser heimlichen Außenseiter*innenposition
       entsteht, und gleichzeitig die Angst, als solche entdeckt zu werden, wird
       in dem Roman sehr deutlich.
       
       Mit der Zeit bemerkt sie, dass sie nicht alleine ist. Dass es Widerstand
       gegen das Regime gibt, auch wenn die Staatsgewalt ihn, wo es möglich ist,
       gewaltsam niederschlägt, um die Bürger*innen abzuschrecken.
       
       Es ist erschreckend, wie wenig unrealistisch das Szenario wirkt,
       insbesondere nachdem Schwangerschaftsabbrüche in Teilen der USA vor wenigen
       Monaten [2][verboten wurden] und reihenweise Betroffene aus Angst vor
       Strafverfolgung ihre [3][Zyklus-Apps löschten.] Auch das Abtreibungsverbot
       und die Überwachung von Schwangeren in Polen oder die [4][Wahl einer
       neofaschistischen Partei in Italien] lassen darauf hindeuten, dass die
       Dystopie gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt ist.
       
       „Ich bin Feministin und glaube, dass es eine größere Bühne für
       feministische Themen braucht“, sagt Burgard-Arp. Besonders
       Reproduktionsrechte und das Recht auf die Kontrolle über den eigenen Körper
       seien ihr wichtig: „Dass wir Frauen nicht darauf reduziert werden, Kinder
       zu kriegen.“ Das zu zeigen, ist ihr mit ihrem Roman auf jeden Fall
       gelungen.
       
       Die heimliche, potenziell tödliche Abtreibung mit dem Kleiderbügel zu Hause
       ist etwas, von dem man bis vor kurzem gehofft hat, dass es in vielen Teilen
       der Welt der Vergangenheit angehört. Hätte Nora Burgard-Arp nicht auch
       einen historischen Roman schreiben können?
       
       „Wenn man über die Vergangenheit schreibt, kann man als Lesende sagen: Das
       hat nichts mehr mit mir zu tun“, sagt sie. Eine gerechte
       Reproduktionspolitik existiere aber, trotz der Abschaffung des Paragraphen
       219a, immer noch nicht. Auch das Erstarken rechter Parteien in Europa dürfe
       nicht kleingeredet werden: „Wir müssen alle sehr wachsam bleiben.“
       
       4 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.thalia-theater.de/stueck/buchpremiere-nora-burgard-arp-2022
 (DIR) [2] /Nach-Anti-Abtreibungs-Urteil-des-Supreme-Court/!5863399
 (DIR) [3] /Datenschutz-bei-Menstruationsapps/!5865556
 (DIR) [4] /Parlamentswahl-in-Italien/!5882860
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Emma Rotermund
       
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