# taz.de -- Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland: Der Käpt’n überlebt immer
       
       > Stefan Diebetz ist Schleusenwärter in Eberswalde, er gehört zu den
       > Ostdeutschen, die nach der Revolution 1989 viel verloren haben. Heute hat
       > er eine Marke aus sich gemacht.
       
       Drei Ruderboote biegen in die Schleuse ein. Eines heißt „Hiddensee“, ein
       anderes „Aurith“. Die Frauen und Männer manövrieren ihre langen Holzkähne
       an die Seitenwände. Einer der Steuermänner macht sich ein Bier auf.
       „Nastrowje, wie die Britten sagen!“, ruft er.
       
       „Na, dann spielen wir mal Schiffe versenken“, sagt Stefan Diebetz,
       Kapitänsmütze und langer geflochtener Wikingerbart, und kurbelt die
       Metallklappen auf, das geht so schwer, dass er sich mit dem ganzen
       Oberkörper dagegen stemmen muss. Das Wasser rauscht mit Karacho aus dem
       Becken. Die Boote wackeln. „Festhalten!“, ruft einer der Insassen.
       
       „Eines muss ich euch noch fragen“, brüllt Diebetz gegen den
       ohrenbetäubenden Lärm der Wassermassen an: „Was ist das wichtigste Gerät
       eines Schleusenwärters?“
       
       „Die Kurbel“, rät ein Mann.
       
       „Bierflasche“, ruft eine Frau.
       
       „Wasser“, eine andere.
       
       „Ooch nich“, brüllt Diebetz zurück. „Das Telefon! Und wisst ihr auch,
       warum?“
       
       Allgemeine Ratlosigkeit.
       
       „Na, um die Arbeit immer weiterzuleiten.“
       
       Die Ruder:innen lachen.
       
       Diebetz fingert eine Zigarette aus seiner Schachtel. „Ich gucke mir die
       Leute vorher an“, sagt er, „dann weiß ich, wer Lust auf meine Scherze hat.“
       Die Hauptsaison ist an diesem Tag Ende August gerade vorbei, trotzdem ist
       einiges los: Ein Floß mit Tagesausflüglern, ein Ruderverein aus Frankfurt
       (Oder), das 100 Jahre alte Fahrgastboot des Tourismusverbands tuckert vor
       der nahegelegenen Stadtpromenade herum.
       
       Diebetz arbeitet seit 2017 an der Stadtschleuse Eberswalde und hat es als
       ihr Wärter zu einer gewissen Prominenz in der brandenburgischen Kleinstadt
       im Landkreis Barnim gebracht. Er mag Boote und Wasser, unterhält sich gerne
       mit Menschen. Er ist eine städtische Attraktion, eine Marke, so wie der
       Eberswalder Spritzkuchen, der wie eine glasierte Krone aussieht. Diebetz
       ist zur Ruhe gekommen nach den Abstürzen der vergangenen Jahrzehnte, den
       ganzen Veränderungen, die er bewältigen musste in seinem ostdeutschen Leben
       seit 1989. 17 Jahre ohne feste Arbeit hat er hinter sich, da ist
       Schleusenwärter quasi wie König sein.
       
       So könnte es weitergehen.
       
       Könnte. Sicher ist das nicht. Denn wieder wird die Arbeit, die Diebetz und
       seine Kolleg:innen machen, in Frage gestellt.
       
       Immer im Oktober, wenn sich die deutsche Einheit jährt, werden die
       entsprechenden Reden gehalten, von Revolution, Freiheit und dem Leben, das
       heute besser ist als in der DDR. Seit einigen Jahren geht das nicht mehr so
       selbstverständlich, die Risse zwischen Ost und West sind wieder stärker
       zutage getreten, werden häufiger thematisiert, gerade im Umgang mit den
       Krisen und Umbrüchen der Gegenwart.
       
       [1][Bundesratspräsident Bodo Ramelow (Die Linke)] hat in seiner Rede zum
       diesjährigen Tag der Deutschen Einheit gesagt: „Neben Geschichten von
       erfolgreichen Aufbrüchen stehen Erzählungen von Menschen, für die die
       Einheit einen sozialen Abstieg bedeutete – für manche von ihnen auf sehr
       lange Zeit.“ Und er warnte vor Ereignissen, die nach den Umbrüchen von
       damals erneut „unsere Arbeitswelt und unsere gesamte Lebensweise
       verändern“. Das löse bei vielen Menschen Ängste und Sorgen aus.
       
       In der [2][PCK-Raffinerie in Schwedt], knapp 50 Kilometer nordöstlich von
       Stefan Diebetz und seiner Schleuse in Eberswalde, haben sie die ganz großen
       Ängste. Da fürchten 1.200 Arbeiter:innen 32 Jahre nach der
       Wiedervereinigung erneut um ihre Arbeitsplätze, falls dort kein russisches
       Öl mehr ankommen sollte. Da fürchten sie den Krieg und seine Folgen.
       
       Bei den Schleusenwärter:innen in Eberswalde sind die Sorgen ein paar
       Nummern kleiner. Hier droht nur der Fortschritt. Die alten Schleusen, die
       Stefan Diebetz und seine Kolleg:innen noch wie vor 150 Jahren mit der
       Hand aufkurbeln, sind marode. Deshalb wollen die Kommunen am Kanal sie
       sanieren – und, wenn sie schon dabei sind, auch gleich automatisieren. Dann
       könnten die Schleusen abends länger geöffnet bleiben. Und sparen würde man
       auch, die Gehälter der Schleusenwärter:innen kosten die Kommunen jedes
       Jahr knapp eine halbe Million Euro. Die Bauarbeiten an den ersten drei
       Schleusen sollen bald beginnen. Drei Arbeitsplätze fallen sofort weg,
       später wahrscheinlich mehr.
       
       Gerade spekulieren Diebetz und die anderen Wärter:innen – eine Frau gibt
       es unter all den Männern – viel darüber, wer bleiben darf und wer nicht.
       Und dann wechselt auch noch ihr Arbeitgeber. Aktuell ist es ein
       Sozialverein, der Projekte für Langzeitarbeitslose anbietet. Doch mit
       Beginn der Bauarbeiten sind die Kommunen für die Schleusen zuständig,
       genauer ein Zweckverband. Und der hat sich noch nicht dazu geäußert, wie
       viele Saisonarbeiter er im nächsten Jahr einstellen will, kann, darf – das
       entscheiden die Kommunen.
       
       Jeder, der bleiben will, muss sich neu bewerben. Auch Diebetz.
       
       Am Morgen dieses Augusttages stapft Stefan Diebetz über die stoppelige
       Wiese zum oberen Teil der Schleusenanlage. Ab und an regnet es, die Luft
       drückt ein wenig, Unwetter sind angekündigt. Um den Hals trägt Diebetz ein
       Fernrohr, das er sein „Okular“ nennt, er will den Pegelstand ablesen.
       Modriger Geruch liegt in der Luft.
       
       Vor den Gitterstäben des Wehrs haben sich die Überreste der letzten Party
       auf der Stadtpromenade angesammelt. Leere Bierdosen, etwas, das wie eine
       Chipstüte aussieht. „Jugendliche“, sagt Diebetz. Er sei ja schon froh, wenn
       sie nachts nicht zu ihm aufs Gelände klettern. „Ich hatte ja früher mal
       richtig Deko dran gehabt, mit alten Paddeln, alten Schwimmwesten. Das haben
       sie mir über die Jahre geklaut.“ Und auch die Handkurbeln für die Schütze
       schließt er jede Nacht in dem roten Backsteinhäuschen am Rand des Beckens
       ein. Damit ihm niemand aus Jux und Tollerei den Kanal leerlaufen lässt,
       sagt er.
       
       Stefan Diebetz ist gelernter Gleisbauer. Die Ausbildung hat er in der
       örtlichen Bahnmeisterei gemacht, nicht freiwillig allerdings. „Zu
       DDR-Zeiten war es ja so“, sagt Diebetz, sein Blick wandert über das Becken
       zum Wallnussbaum hinter der Schleuse, „man musste einen Beruf ergreifen,
       und das war der einzige, der frei war.“ Der „Asozialen-Paragraf“ 249 im
       Strafgesetzbuch machte in der DDR Arbeit zur Pflicht. Wer keine hatte,
       landete oft im Gefängnis oder im Arbeitslager. Mit 16 Jahren steht Diebetz
       zwischen ausgewachsenen Männern im Gleis und schuftet. „Das haben wir alles
       mit der Hand gemacht. Die Schwellen unterkoffert, damit sie runterfallen,
       rausziehen, neue Schwelle rein, einhängen, wieder stoppen.“ Seit dieser
       Zeit habe er Probleme mit der Hüfte.
       
       Ende der achtziger Jahre versuchen viele Männer, dem Dienst an der Waffe
       bei der Nationalen Volksarmee zu entkommen. Diebetz will raus aus dem
       Gleisbau. Außerdem versprechen sie ihm, er könne was mit Hunden machen, und
       die liebt er. Bei einem zweiten Treffen im Oktober 2022 zeigt er ein
       Schwarzweißfoto auf seinem Mobiltelefon. Seine Mutter hat es ihm geschickt.
       Es zeigt Diebetz vor einem großen Hundezwinger. Diebetz guckt in die
       Kamera, lächelt.
       
       Damals verpflichtet er sich für drei Jahre. Und er leistet seinen Dienst
       nicht irgendwo: Diebetz patrouilliert mit seiner Rottweilerhündin Biene vor
       dem Brandenburger Tor und am Checkpoint Charlie. Er soll Menschen
       aufhalten, die aus der DDR fliehen wollten. „So war der Befehl“, sagt er,
       „na ja.“
       
       Als die Mauer im November 1989 fällt, ist Diebetz Anfang zwanzig. Einen Tag
       später überquert er zum ersten Mal die Grenze, die er bewacht hat. Er will
       sehen, wonach sich die anderen sehnen. Spektakulär findet er es bis heute
       nicht. Er sagt: „Das war da wie bei uns.“
       
       Im Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei. Mit dem Land geht auch dessen
       Armee zu Ende. Die Diensthündin von Diebetz wird eingeschläfert, weil Biene
       zubeißt, in Situationen, in denen sie sich unsicher fühlt, sagt er.
       
       So kurz nach der Revolution herrscht bei vielen Menschen noch Freude über
       das neue Leben, aber es beginnt auch schon die Zeit, in der viele Betriebe
       auf dem Gebiet der ehemaligen DDR für wenig Geld an westdeutsche Firmen
       verkauft werden. Die Zeit der Treuhand, der massiven Entlassungen, die Zeit
       existenzieller Kämpfe.
       
       Das Eberswalde, in dem Diebetz aufgewachsen ist, war ein bedeutender
       Industriestandort der DDR, mit chemischer Fabrik und Walzwerk. Hier
       besserten sie Züge aus und bauten riesige Kräne für den internationalen
       Markt. 2002 liegt die Arbeitslosenquote für den Bezirk Eberswalde bei rund
       20 Prozent. Doppelt so hoch wie in Gesamtdeutschland.
       
       Heute ist das anders. Das liegt auch an den Tourist:innen. Wenn es die
       nicht gäbe, bräuchten sie Stefan Diebetz hier auch nicht. Er nimmt die
       lange Stange aus der Haltevorrichtung und zieht das Tor mit langsamen,
       rückwärtsgewandten Schritten auf. „Wenn man das zwanzig Mal am Tag macht,
       weiß man, was man gemacht hat“, sagt er. In der vergangenen Saison hätten
       sie rund 17.000 Schleusungen von Freizeitbooten im Kanal registriert. Vor
       allem während der Lockdowns hätte er manchmal keine freie Minute gehabt,
       erzählt Diebetz.
       
       Der aus Rostock stammende Soziologe Steffen Mau vergleicht die Einführung
       der Marktwirtschaft im Osten Deutschlands in seinem Buch „Lütten Klein.
       Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ mit einem
       gesellschaftlichen Tsunami: „Private Gewinninteressen wurden in Szene
       gesetzt und ermächtigt, bislang abgeschirmte Bereiche den Imperativen des
       Marktes unterworfen, Werktätige in marktfähige Güter verwandelt.“
       
       Diebetz hat damals erst mal Glück. Er wird zunächst Hausmeister in einem
       städtischen Jugendclub, dann macht er sich 1993 selbstständig mit einer
       Firma für Abrisse und Entrümpelungen. Er entsorgt die Dinge, die die Leute
       nicht mehr haben wollen, also quasi alles. Drei Autos hat er, und er stellt
       Mitarbeiter ein. Es sieht aus, als hätte er es geschafft. Doch dann hätten
       einige seiner Kunden nicht gezahlt. „Es gibt Städte, die heute noch
       Schulden bei mir haben“, sagt er. Der erste Versuch, im Kapitalismus Fuß zu
       fassen, scheitert nach nur drei Jahren. Dann ist die Firma pleite. „Ich
       hatte Leute, die ich bezahlen musste. Die musste ich dann alle wieder
       entlassen“, sagt Diebetz. Er meldet Privatinsolvenz an.
       
       Ostdeutsche Männer aus dem Jahrgang 1971 hätten nach dem Mauerfall bis zum
       Alter von 34 Jahren fast fünfmal den Job gewechselt, Frauen viermal,
       schreibt Soziologe Steffen Mau. Und: In der typischen Erwerbsbiografie
       eines Ostdeutschen „reihten sich vom Jobcenter verordnete
       Bewerbungstrainings, Gelegenheitsjobs, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen,
       reguläre, aber befristete Jobs, Versuche der Selbstständigkeit, längere
       Krankheitsphasen, Aushilfstätigkeiten im Laden einer Bekannten und
       Solounternehmertum aneinander“.
       
       Diebetz ist vier Jahre älter als die Altersgruppe, über die Mau in seinem
       Buch schreibt, aber nach der Privatinsolvenz läuft es bei ihm ganz
       ähnlich. Er bekommt einen Job als Bauhelfer angeboten, einen als
       Elektrohelfer. Er schlägt sie alle aus, lebt von Sozialhilfe und arbeitet
       wieder als Hausmeister. Dieses Mal bei der Volkssolidarität, ohne Gehalt,
       ehrenamtlich. Einfach mal nicht zu arbeiten wäre ihm nicht in den Sinn
       gekommen: „Zu Hause rumsitzen konnte ich nicht, da wäre mir die Decke auf
       den Kopf gefallen.“
       
       Das ist bis heute so.
       
       „Hast morgen frei, wa?“, nuschelt ein Kollege, der gegen Abend von einer
       anderen Schleuse gekommen ist. Die beiden sitzen auf eine Zigarette
       zusammen.
       
       „Wer, du?“, fragt Diebetz.
       
       „Ne, du“, sagt der Kollege.
       
       „Na ja, fünf Tage“, sagt Diebetz.
       
       „Der braucht das mal“, sagt der Kollege und deutet mit dem Kinn auf
       Diebetz. „Der macht ja auch nebenbei genug. Seine’ Leute’ da helfen,
       einkaufen fahren und sonst was. Deshalb sitzt der auch hier und will nicht
       nach Hause.“
       
       Diebetz nickt.
       
       Menschen, die viel arbeiten, gibt es natürlich auch in Westdeutschland, der
       Workaholic gilt geradezu als klassischer Auswuchs des Kapitalismus. Im
       Osten Deutschlands gibt es aber noch ein anders gelagertes [3][spezielles
       Verhältnis zur Arbeit]. Vielleicht weil in der DDR vieles um die Arbeit
       herum organisiert war, um die Betriebe: Sportvereine, Freizeit, Feiern, ja
       sogar die Kampfgruppen für die Heimatverteidigung. Arbeit war oft
       Lebenssinn, und ja, wer keine hatte, konnte im Gefängnis landen. „Kulturell
       war die DDR eine durch und durch ‚arbeiterliche Gesellschaft‘, in der
       tätige Arbeit, Betriebsanbindung und Facharbeiterkultur besondere
       Wertschätzung erfuhren“, schreibt Mau in „Lütten Klein“. Fast jede:r in
       der DDR hatte einen Job, ein Großteil des eigenen Selbstverständnisses
       wurde über den Arbeitsplatz gebildet.
       
       Diebetz kann nicht einfach Dienst nach Vorschrift machen. Er kurbelt nicht
       nur seine Schleuse auf, er betreibt auch den zur Stadtschleuse gehörenden
       Kanuverleih, ist ständig für seine Kolleg:innen erreichbar, hilft ihnen
       bei ihren Bewerbungen. Er erklärt jeder Person, die danach fragt, die alte
       Technik seiner Anlage und gibt Bootsfahrer:innen Tipps, wo sie am
       besten einkaufen oder übernachten können.
       
       2010, da war er noch ehrenamtlicher Hausmeister, sei ihm alles einmal kurz
       zu viel gewesen, erzählt Diebetz.
       
       „Da hatte ich Winterdienst, nur mit Schippe und Besen. Bin dann nach Hause
       und habe Schmerzen gekriegt. Brustschmerzen. Da wusste ich, irgendwas
       stimmt nicht.“
       
       Drei Minuten klinisch tot. Ein Herzinfarkt.
       
       Nach drei Stents, 14 Tagen auf Station und drei Wochen Reha sei es ihm dann
       wieder einigermaßen gut gegangen, sagt Diebetz. Er fängt sogar wieder mit
       dem Rauchen an.
       
       Seine zweite große Chance, vielleicht auch die dritte, wenn man die
       Entrümpelungsfirma zählt, kam für Diebetz im Sommer 2017. Damals fragte ihn
       seine Sachbearbeiterin unverhofft, ob er den Job als Schleusenwärter will.
       Und ob er will. Endlich ein fester Job mit einem akzeptablen Einkommen.
       Diebetz arbeitet nur in der Saison, von Mitte April bis Mitte Oktober. Im
       Winter fährt er als Kraftfahrer für ein örtliches Sozialkaufhaus, wenn sie
       ihn da brauchen.
       
       Wie viel er bei seiner Arbeit an der Schleuse verdient, sagt er nicht. Nur
       so viel: „Ich habe zu Hause ein Auto stehen und ein Moped. Man überlebt
       es.“
       
       Er hat sogar ein Boot. Dieses Boot, oder eigentlich nur ein Bild davon, ist
       eines der ersten Dinge, die Diebetz zeigt, an diesem Tag im August. Es ist
       früh am Morgen, noch vor dem Rundgang mit dem Okular. Da sitzt er an seinem
       Schreibtisch im Backsteinhaus, greift nach einem schmutzigen Kaffeebecher
       auf dem Kühlschrank hinter sich und zeigt auf das Bild. Das Boot erinnert
       entfernt an einen Katamaran. Er hat es mit seinem Bruder aus zwei alten
       DDR-Kähnen und einer Holzplattform zusammengeschraubt und „Andrea Doria“
       getauft. Nach einem Song von Udo Lindenberg, weil er den toll findet. Das
       Boot ist Marke Eigenbau, so wie Diebetz’ Leben.
       
       Mit seinem Gefährt kann er noch öfter am und auf dem Wasser sein als in
       seinem Job. Er liebt das Wasser und alles, was irgendwie damit zu tun hat,
       deswegen auch sein Wikingerschmuck. Er trägt ein Lederarmband am rechten
       Handgelenk. Darauf ist ein Hammer abgebildet, das Zeichen von Thor. Stefan
       Diebetz sagt, er habe ein Faible für den Gott, weil der für die Freiheit
       der Wikinger gekämpft habe.
       
       Und er sagt Sätze wie: „Der alte Finowkanal existiert schon seit 400
       Jahren“, und dass er für den Kanal kämpft. Seine Schleuse ist die älteste
       am Wasserlauf, stolz zeigt er das Schild: Vollendet im Jahr 1875. Diesen
       Stolz hat er nicht exklusiv, den teilen in Eberswalde viele. Das ist der
       örtliche Lokalpatriotismus, sogar ihren Dialekt nennen sie hier
       Kanaldeutsch.
       
       Bei Diebetz fängt es mit diesem Stolz allerdings erst nach der Revolution
       1989 an. Zu DDR-Zeiten ist das Wasser eine Kloake der Industriebetriebe,
       das chemische Werk leitete seine Abwasser hinein, eine Wäscherei ebenfalls.
       Manchmal steht der Schaum zentimeterhoch auf der Wasseroberfläche und
       verströmt einen seifigen Geruch. Damals nimmt Stefan Diebetz den Kanal kaum
       wahr, sagt er. Das ändert sich bei ihm erst, als die Industrie nach dem
       Beitritt der DDR verschwindet und das Wasser sauberer wird.
       
       Diebetz arbeitet hier auch deshalb so gern, weil er hier das Sagen hat.
       
       Hier entscheidet er, wann welches Boot zuerst hineinfährt und wo es
       festgemacht wird.
       
       Hier hat er Kolleg:innen, die ihn anrufen und ihn um Rat bitten.
       
       Hier hat er zwei Schmetterlinge aus Blech an das Fenstergitter seinen Büros
       angebracht und eine eigene Kaffeemaschine hineingestellt.
       
       Hier kennt man ihn.
       
       Hier ist er wer.
       
       An diesem Augustmorgen kommt ihn ein ehemaliger Mitarbeiter des
       Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts besuchen, so wie fast jeden Tag.
       „Morgn, Herr Thiele!“, ruft Diebetz. Und fügt hinzu: „Der kommt fast
       täglich. Der hat Sehnsucht nach dem Kanal.“
       
       Vom Zaun des Schleusengeländes winkt jemand. „Das ist der eine Nachbar von
       mir, den werde ich erst mal wieder abwimmeln“, sagt Diebetz und läuft zum
       Zaun. Der Nachbar ist ein großer Mann mit Schnauzbart und einem kindlichen
       Ausdruck im Gesicht. In einer Hand hält er einen Brief.
       
       „Was haben wir denn, damit du selber kommst?“, fragt Diebetz.
       
       Der Nachbar: „Der B. ist doch voriges Jahr beerdigt worden.“
       
       „Nein, das ist schon zwei Jahre her.“
       
       „Zwei Jahre?! Ich habe Post gekriegt von der Polizei …“
       
       „Ach so. Den hat R. auch jekriegt.“
       
       „Ja?“
       
       „Ja, ja. Stellungnahme sollste machen.“
       
       „Ob ich was gesehen haben soll …“
       
       „Ja, genau.“
       
       „Er ist Analphabet“, erklärt Diebetz. „Deswegen kommt er mit solchen
       Problemen zu mir.“
       
       Diebetz kümmert sich um andere, die weniger gut zurechtkommen als er. Seine
       Arbeit, könnte man sagen, die sichert nicht nur sein Leben.
       
       Er wohnt seit 2002 in einem Haus der Volkssolidarität, in dem außer ihm vor
       allem Menschen mit Betreuer wohnen. Die meisten sind Männer. Der eine hört
       Stimmen, ein anderer hat sich vor einiger Zeit im Wald aufgehängt.
       
       Ins Haus lassen will er einen bei einem Besuch Anfang Oktober allerdings
       nicht. „Zu chaotisch.“ Seine Wohnung, er sagt: „mein Apartment“, sei bloß
       ein kleiner Raum, 20 Quadratmeter, mit Hochbett und Kochnische. Viel lieber
       zeigt er den Wohnwagen, den er vor ein paar Jahren hinter dem Haus
       aufstellen durfte, und den Holzpavillon davor, den er selbst gebaut hat.
       Über der Eingangstür hängt eine Kuhglocke. „Wer mit dem Kopf dagegen stößt,
       muss draußen bleiben“, sagt Diebetz. Er lasse nur Menschen hinein, die mit
       ihm auf einer Augenhöhe oder kleiner sind. Hier lebt er den ganzen Sommer
       über, erst wenn die Saison vorbei ist, zieht er ins Haus.
       
       Eine Lichterkette zieht sich die Wände entlang, über einem Kaktus hängt ein
       Schild. „Ruhezone“. Ein Fernseher käme ihm hier nicht hinein, sagt Diebetz.
       Bei ihm werde sich noch richtig unterhalten. „Das ist mein Nachbar H.“,
       stellt Stefan Diebetz den Mann am Tisch vor, der mit versteinerter Miene
       mehrere Tawa-Big-Packs übereinanderstapelt und dabei genau darauf achtet,
       dass sie Kante auf Kante liegen. H. hört Stimmen, sagt Diebetz. Er kocht
       jeden Abend auch für ihn. Cordon Bleu, Nudeln, Gemüsepfanne, etwas Hack. Er
       setzt Kaffee auf. Er sagt: „Der Mensch braucht etwas Warmes.“ Er sagt auch:
       „Bei mir können die Leute kommen, wie sie wollen.“
       
       Er ist in das Haus eingezogen, nachdem er sich von seiner Ex-Freundin
       getrennt hat. Wenn er über sie redet, dann hört man bisweilen den rauen und
       manchmal rassistischen Ton heraus, in dem die Männer hier miteinander
       sprechen:
       
       „Die musste mal ’ne andere Hautfarbe kennenlernen und da habe ich gesagt:
       Schluss, aus, Micky Maus, und habe mir was Eigenes gesucht.“
       
       Dazu passt auch der Satz, den Diebetz sagt, als man ihn fragt, wie sich die
       Stadt seiner Meinung nach entwickelt habe. Viele Arbeitslose gibt es hier
       heute noch, sagt Diebetz. Am Altstadtkern machen sie was, aber im
       Brandenburgischen Viertel ist noch alles ziemlich DDR-mäßig.
       
       „Die Stimmung ist durch die ganzen Ausländer ein bisschen gekippt“, sagt
       Diebetz. Dann bricht er aber ab. Er sagt, er wolle nicht politisch werden.
       
       Ist ihm jemals in den Sinn gekommen, die Stadt zu verlassen?
       
       „Nö.“
       
       Und Urlaub?
       
       „Nö“, sagt Diebetz. „Ich habe doch den Finowkanal. Der reicht mir.“
       
       Dann fällt ihm ein, dass er vielleicht schon mal auf Rügen war. Daran kann
       er sich aber nicht mehr so genau erinnern.
       
       Diebetz zeigt sein Bewerbungsfoto. Er ist fast nicht zu erkennen. Ein Mann
       mit Glatze und Brille. Einer wie viele. Erst als Diebetz den Job als
       Schleusenwärter bekam, entschied er, sich einen richtigen Seemannsbart
       wachsen zu lassen. Beim Einstellungsgespräch, damals 2017, sagt sein
       späterer Chef zu ihm: „Ah, der Käpt’n!“ Dieser Satz, vielleicht einfach nur
       so rausgerutscht, ging Diebetz nicht mehr aus dem Kopf. Die Rolle des
       Kapitäns, das machte mehr her als all die bisherigen Rollen in seinem
       Leben. Doch ein Käpt’n braucht etwas, damit man ihn erkennt. Diebetz
       bestellte eine Kapitänsmütze bei Amazon. Irgendwann schenkt ihm seine
       Schwägerin noch Ringe für den Bart.
       
       Er denkt sich witzige Sprüche aus, wie den mit dem „Schiffe versenken“, den
       er erzählt hat, als die drei Ruderboote in seiner Schleuse waren. Und wegen
       der Sprüche hat er sich auch mal fast mit seinem Lieblingskollegen Marko
       Panzer gestritten, der ihm einen seiner Sätze geklaut hatte. Ein Anruf,
       dann war das geklärt.
       
       Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sei schon hier gewesen und Kabel 1 hat ihn
       für die Dokureihe „Achtung Kontrolle!“ begleitet, sagt Diebetz. Manche
       Leute würden extra seinetwegen in den Kanal fahren. Und Diebetz erzählt,
       wie sich sein möglicher neuer Chef immer freut, wenn er ihn sieht: „Weil
       ich sein Lieblingsschleusenwärter geworden bin, sein Maskottchen.“
       
       Man könnte auch sagen, dass Stefan Diebetz nach seiner zweiten oder dritten
       Chance den [4][Kapitalismus] verstanden hat. Er hat eine Marke aus sich
       gemacht. Er ist der Kapitän an Land. Er glaubt: Wenn einer bleibt, seinen
       Job behält, dann er. Um seinen Kollegen Panzer macht er sich da schon mehr
       Sorgen, sagt Diebetz. Auch weil der keine Fahrerlaubnis hat, und die sei
       beim Zweckverband zwar nicht erforderlich, aber erwünscht.
       
       Kurz vor Feierabend kommt Panzer dann mit dem Fahrrad angefahren, wie
       eigentlich jeden Abend. Das geht, weil er von seinem Kollegen eine Schleuse
       weiter oben weiß, dass keine Boote mehr kommen. Das einzige Risiko sind die
       Studenten von der nahegelegenen Öko-Uni. Die haben ihren Kanusteg genau
       zwischen Diebetz’ und Panzers Schleusen. Deshalb wissen die beiden auch
       nie, wann sie vorbeikommen.
       
       Panzer ist ein 49-jähriger Mann mit vielen Tatoos und traurigen Augen. Die
       beiden Männer sitzen in Diebetz’ Büro und rauchen. Im Hintergrund läuft
       Miley Cyrus. Ihre Stimme schallt grell in den Raum. Diebetz und Panzer
       quatschen über Frauen und Hunde.
       
       „Ich wollte das eigentlich schon immer machen“, sagt Panzer, als man ihn
       fragt, wie ihm der Job gefällt. Auch er hangelte sich nach der Wende von
       Umschulung zu Umschulung und strandete bei Ein-Euro-Jobs.
       
       Würde er gerne bleiben?
       
       „Ja, wäre schön“, sagt Panzer. „Aber es ist schwierig.“
       
       „Dann werd ich die Schleuse mal zur Nachtruhe begeben“, sagt Diebetz. „Es
       sei denn, es kommt noch ein Student …“
       
       „Ne!“, ruft Panzer. „Jetzt musst du doch nicht mehr schleusen.“
       
       „Doch, bis drei viertel“, sagt Diebetz.
       
       Und als hätten die Studenten mitbekommen, dass über sie geredet wird,
       taucht pünktlich zum Feierabend tatsächlich einer vor Diebetz’ Fenster auf
       und winkt herüber.
       
       „Können wir durch die Schleuse?“, fragt der junge Mann mit dem Zopf und dem
       bayerischen Akzent, nachdem Diebetz zu ihm an den Zaun gelaufen ist.
       
       „Jetzt nicht mehr“, sagt Diebetz.
       
       „Müssen wir die Kanus jetzt rumtragen?“, fragt der Student.
       
       „Rumtragen, genau“, sagt Diebetz.
       
       „Wollten die jetzt noch runter?“, fragt Panzer, als Diebetz zu ihm ins Büro
       zurückkehrt.
       
       „Die wollten jetzt noch runter“, sagt Diebetz.
       
       „Um diese Zeit?!“
       
       „Ich sag doch: Studenten.“
       
       Beim zweiten Treffen im Oktober klappt Diebetz seinen Laptop auf, er hat
       extra die Doku von Kabel 1 über sich herausgesucht. Er sitzt zurückgelehnt
       und guckt sich mit einem kleinen Grinsen selbst im Fernsehen an.
       
       Bei der Frage, ob er jetzt wisse, wie es für ihn weitergeht, gibt er sich
       verschlossen.
       
       Er selbst habe sich beworben, Panzer auch. Nun hofften sie beide, dass es
       gut ausgeht und sie ihre Jobs behalten können. Aber mehr dürfe er nicht
       sagen, das Bewerbungsverfahren laufe ja noch.
       
       16 Oct 2022
       
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