# taz.de -- Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen: Noch viel zu tun
       
       > Der Europarat attestiert Deutschland Defizite beim Schutz von Frauen und
       > Mädchen vor Gewalt. Es fehle ein nationaler Aktionsplan.
       
 (IMG) Bild: Protestaktion in Berlin „Femizide stoppen!“ nach dem Mord an einer jungen Frau im Oktober 2022
       
       BERLIN taz | Nach dem diesjährigen Oktoberfest in München interessierte vor
       allem der Blick auf die [1][in die Höhe schnellenden Coronazahlen]. Eine
       andere Statistik, die „auf den Wiesn“ jedes Jahr erhoben wird, erregte
       hingegen kaum Aufmerksamkeit: die der angezeigten Sexualdelikte. 55 wurden
       in diesem Jahr von der Polizei aufgenommen, 2019 waren es 47. Eine leider
       normalgewordene Statistik, die die jüngste Feststellung des Europarats
       unterstreicht: Deutschland tut noch nicht genug, um Frauen vor
       geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen.
       
       Trotz vorhandener Schutzkonzepte berichteten Frauen, dass ihnen auf dem
       Oktoberfest zwischen die Beine gefasst oder unters Dirndl fotografiert
       wurde. Drei Vergewaltigungen wurden polizeilich erfasst. Wie jedes Jahr ist
       davon auszugehen, dass die Dunkelziffer hoch ist, weil viele sexualisierte
       Straftaten nicht zur Anzeige gebracht werden.
       
       Sexualdelikte, sei es beim Okotberfest oder beim Karneval, und häusliche
       (Partnerschafts-)Gewalt betreffen besonders häufig Frauen. Um
       geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen unterzeichneten
       die 46 Mitgliedsstaaten des Europarates im Jahr 2011 die Istanbul
       Konvention. Im Februar 2018 trat diese in Deutschland gesetzlich in Kraft.
       
       ## Unterschiede in Städten und auf dem Land
       
       Nun hat eine Expert*innenkommission des Europarats untersucht,
       inwieweit sich die Situation für Frauen und Mädchen in Deutschland seitdem
       verbessert hat. Dabei stellte das Fachgremium [2][gravierende Defizite]
       fest.
       
       In ihrem am [3][Freitag veröffentlichten Bericht] werden zunächst
       Entwicklungen im deutschen Strafrecht begrüßt, wie etwa die Einführung des
       Grundsatzes [4][“Nein heißt nein“] bei Vergewaltigung und sexualisierter
       Gewalt oder der erfolgreiche Betrieb des nationalen Hilfetelefons. Die
       Expert*innengruppe hob auch die ausdrückliche Kriminalisierung von
       technologiegestütztem Missbrauch, also zum Beispiel Cyber-Stalking oder
       unerlaubtes Fotografieren privater Körperteile positiv hervor. Diese habe
       „in den letzten Jahren zu einem soliden Rechtsrahmen für die digitale
       Dimension der Gewalt gegen Frauen beigetragen“.
       
       Dennoch sei in Deutschland noch viel zu tun. So gebe es große Diskrepanzen
       zwischen Stadt und Land, aber auch innerhalb der 16 Bundesländer.
       [5][Frauenhäuser und Beratungsstellen] seien sehr ungleich verteilt,
       außerdem gebe es lange Wartelisten. Das Gremium forderte, dass alle
       weiblichen Gewaltopfer kostenlosen Zugang zu speziellen Schutzunterkünften
       haben sollten.
       
       Als Negativbeispiel muss Berlin herhalten: In einer Stadt mit 3,7 Millionen
       Einwohner*innen gebe es laut dem Bericht gerade mal eine
       Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer. Dort arbeiten weniger als neun
       Mitarbeitende und es gibt eine durchschnittliche Wartezeit von zwei Monaten
       für eine Erstberatung.
       
       Der Paritätische Wohlfahrtsverband, in dessen Mitgliedschaft 130
       Frauenhäuser und 190 Frauenberatungsstellen organisiert sind, fordert
       Nachbesserungen. „Es kann nicht sein, dass es von der Wohnregion abhängt,
       ob man sich vor einem prügelnden Partner schützen kann“, so Ulrich
       Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.
       
       Kritik kommt auch von der Berliner Anwältin für Familienrecht Asha
       Hedayati. Sie vertritt überwiegend Frauen, die sich aus gewalttätigen
       Beziehungen lösen und [6][twittert]: „Nichts ist überraschend am Bericht
       des Europarats. Alles, was da steht, kann ich aus der Praxis bestätigen.
       Deutschland ~weiß~ um den desaströsen Zustand des Gewaltschutzes. Es fehlt
       schlicht der politische Wille, diesen Zustand zu verändern.“
       
       Die Expert*innen des Europarats fordern außerdem mehr Schulungen, damit
       Menschen, die mit Opfern oder Täter*innen von Gewalt zu tun haben, diese
       auch erkennen können, sowie einen Überprüfungsmechanismus für [7][häusliche
       Tötungsdelikte]. Dem Bericht zufolge bieten beispielsweise fast alle
       Polizeiakademien auf Länderebene Ausbildungseinheiten zum Umgang mit
       häuslicher Gewalt an. Frauenrechtsgruppen und in diesem Bereich tätige
       Expert*innen wiesen jedoch darauf hin, dass diese Kenntnisse zu
       grundlegend seien und in der Praxis nicht immer umgesetzt würden. Auch in
       der deutschen Justiz gebe es zu viele negative geschlechterspezifische
       Stereotype und Haltungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr bestehe fort. Auch wird
       sexuelle Gewalt weiterhin milder beurteilt, wenn der Täter ein aktueller
       oder ehemaliger Partner ist.
       
       ## Zu wenig Schutz für asylsuchende Frauen
       
       Der Bericht fordert die deutschen Behörden dringend auf, eine „unabhängige
       vergleichende Analyse“ der bestehenden nationalen, föderalen und lokalen
       Maßnahmen und Programme zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen,
       einschließlich häuslicher Gewalt, durchzuführen. So sollen Defizite sowie
       vielversprechende Ansätze ermittelt werden, die landesweit empfohlen werden
       können.
       
       Während auf Landesebene nahezu flächendeckend Aktionspläne verabschiedet
       worden sind, fehle ein nationaler Aktionsplan in Deutschland. Diesen sieht
       [8][die Istanbul-Konvention] aber vor.
       
       Der Bericht sieht auch Verbesserungsbedarf beim Schutz für geflüchtete
       Frauen in Gemeinschaftsunterkünften. Sie bräuchten Zugang zu
       Beratungsstellen, da es „anhaltende Sicherheitsbedenken“ für sie gebe, die
       sich unter anderem durch die nicht nach Geschlechtern getrennten Zimmer in
       Unterkünften ergäben. Die Kommission äußert „große Besorgnis“ nach
       Berichten über unsichere Waschräume, schlechte Beleuchtung und fehlende
       Rückzugsräume.
       
       Asylsuchende berichteten auch von Missbrauch durch Sicherheitspersonal und
       bemängelten das schlechte Management von Belästigungsvorfällen und
       Missbrauch durch männliche Bewohner, einschließlich der Nichtdurchsetzung
       von Schutzanordnungen gegen gewalttätige (Ehe)partner.
       
       Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack forderte als Reaktion auf
       den Bericht bundesweit verbindliche Regelungen für die Unterstützung von
       Gewaltopfern. Diese seien „seit Jahren überfällig“. Außerdem forderte der
       DGB einen „Rechtsanspruch auf sofortigen Schutz für alle Opfer von
       häuslicher Gewalt, von der vor allem Frauen betroffen sind“, so Hannack in
       Berlin.
       
       Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lisa Paus
       (Grüne) äußerte sich zu dem Bericht des Expert*innengremiums in einer
       Pressemitteilung: „Ich stehe zur vorbehaltlosen Umsetzung der
       Istanbul-Konvention. Wir haben sie im Koalitionsvertrag vereinbart, und sie
       ist für mich als Frauenministerin und Feministin eine wichtige Richtschnur.
       Wir werden daher das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre
       Kinder absichern“, so Paus.
       
       Auf Bundesebene habe man vereinbart, dass ein Rechtsrahmen für die
       verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern geschaffen werden soll.
       Außerdem wolle die Bundesregierung eine Koordinierungsstelle einrichten,
       die eine Strategie zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen erarbeiten
       werde. Paus kündigte außerdem an, dass ihr Ministerium noch in diesem Jahr
       eine unabhängige Beobachtungsstelle einrichten werden, bei der Daten und
       Erkenntnisse zur Gewalt gegen Frauen zusammengeführt werden sollen.
       
       7 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Oktoberfest-und-Exzess/!5881438
 (DIR) [2] /Nach-Femizid-in-Nordhessen/!5856897
 (DIR) [3] https://rm.coe.int/report-on-germany-for-publication/1680a86937
 (DIR) [4] /Reform-des-Sexualstrafrechts/!5809595
 (DIR) [5] /Gewalt-gegen-Frauen/!5880315
 (DIR) [6] https://twitter.com/frauasha
 (DIR) [7] /Gewalt-gegen-Frauen-und-Queers/!5884540
 (DIR) [8] /Menschenrechtlerin-zu-Gewalt-an-Frauen/!5660892
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Linda Gerner
       
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