# taz.de -- Artenschutz in Deutschland: Keiner will sie haben
       
       > Seit fast zehn Jahren lebt eine Herde Wisente in den Wäldern NRWs. Nun
       > ist der Streit über die Wildrinder eskaliert.
       
 (IMG) Bild: Wisente in NRW: Sie sind das letzte noch in Europa vorkommende Wildrind
       
       BERLIN taz | 25 Wisente stapfen durch die Wälder im südlichen
       Nordrhein-Westfalen, und bislang will niemand die Verantwortung für sie
       übernehmen. Die Herde hatte sich im Rahmen eines Wiederansiedlungsprojekts
       seit 2013 entwickelt. [1][Von Anfang an hatte es Streit und gerichtliche
       Auseinandersetzungen um die riesigen Wildrinder gegeben], die im Winter bei
       Futtermangel auf die Rinde von Laubbäumen ausweichen und so wirtschaftliche
       Schäden verursachen. Ende September hatte der Trägerverein des Projektes
       einen Vertrag mit dem Kreis Siegen-Wittgenstein und der Bezirksregierung
       Arnsberg gekündigt und sich damit aus seinem Projekt zurückgezogen.
       
       Durch verschiedene Gerichtsurteile war der Verein verpflichtet, Waldbauern
       für Fraßschäden der Tiere an Buchen und Eichen zu entschädigen. Dem will er
       mit der Kündigung des Vertrags ausweichen und geht nun davon aus, dass die
       Tiere herrenlos sind, so wie Rehe oder Wildschweine. Zudem seien sie durch
       das Naturschutzgesetz geschützt. Der Anwalt des Vereins, Rüdiger
       Nebelsieck, teilte mit, „die Kündigung von öffentlich-rechtlichen Verträgen
       ist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz in bestimmten Fällen bei
       veränderten Verhältnissen zulässig“. Das sei hier der Fall, weil die Zwecke
       der Freisetzungsphase nach der rechtskräftigen Auffassung der Gerichte
       schon seit Langem erreicht seien. Die Aufgabe des Eigentums an den Tieren
       sei statthaft.
       
       Die staatlichen Vertragspartner hingegen halten es für nicht rechtmäßig,
       dass der Verein sich „durch diesen rechtlichen Kniff seiner Verpflichtungen
       entledigen will, die grundlegende Voraussetzung dafür waren, dass der
       Trägerverein die Tiere seinerzeit überhaupt freisetzen durfte“. Der Verein
       wolle die Verantwortung für die Herde auf die öffentliche Hand überwälzen
       und zulasten der privaten Eigentümer eine Pflicht zur Duldung von
       Fraßschäden auslösen.
       
       Ende vergangenen Jahres hatte ein wissenschaftliches Gutachten der
       Tierärztlichen Hochschule Hannover festgestellt, dass das Projekt nur mit
       einem großen internationalen Projektpartner möglich sei. Nötig seien ein
       besseres Herden- und Konfliktmanagement, eine intensivere wissenschaftliche
       Begleitung und eine auskömmliche Finanzierung von jährlich mindestens einer
       halben Million Euro – auch um Forderungen von Waldbesitzern auf
       Schadensausgleich sicherzustellen. Ein kleiner Verein könne diese Aufgaben
       nicht stemmen, hieß es in dem Gutachten.
       
       ## Verein war offenbar überfordert
       
       Das lenkt den Blick beispielsweise auf den WWF. Die Naturschutzorganisation
       hat mit Artenschutzprojekten weltweit viel Erfahrung und ist etwa an einem
       Wiederaussiedlungsprojekt von Wisenten im Kaukasus beteiligt. „Wir haben
       das Projekt von Anfang an begleitet“, sagt Moritz Klose, Programmleiter
       Wildtiere in Deutschland. „Uns war seine Signalwirkung wichtig.“ Der Verein
       sei mit der „sehr großen Herausforderung, die es bedeutet, eine so große
       Tierart in der Kulturlandschaft Nordrhein-Westfalens anzusiedeln, ganz
       offensichtlich überfordert gewesen“, sagt Klose. Er hält die Stimmung der
       Beteiligten vor Ort durch jahrelange Gerichtsprozesse für so vergiftet,
       dass eine Fortführung des Projekts in der jetzigen Form nicht
       erfolgversprechend sei. Klose sieht nun vor allem die Landesregierung in
       Düsseldorf in der Pflicht.
       
       Das zuständige Umweltministerium unter dem grünen Minister Oliver Krischer
       jedoch zeigt sich angesichts des eskalierten Streits zunächst ratlos und
       verschickt auf Anfrage eine dürre Mitteilung: „Wir bedauern die jüngste
       Entwicklung rund um das Wisentprojekt. Der Bund, das Land und der Kreis
       Siegen-Wittgenstein haben das Wisentprojekt langjährig wohlwollend
       begleitet und auch finanziell unterstützt. Der angekündigte Schritt seitens
       des Trägervereins wirft vertragsrechtliche, artenschutzrechtliche und
       finanzielle Fragen auf, die es jetzt zu klären gilt.“
       
       ## Droht dem Wisent ein ähnliches Ende wie dem Luchs?
       
       Dabei zeichnen sich, angesichts der Tatsache, dass Wisente eine streng
       geschützte Art sind, drei Optionen ab. Die erste: Die Tiere bleiben vor
       Ort, das Land NRW übernimmt Management und Verantwortung für die Herde. Das
       bedeutet, es haftet für Fraßschäden, sorgt eventuell mit Wildäckern oder
       Wiesen dafür, dass die Tiere nicht zu weit wandern oder Bäume anfressen,
       übernimmt die Kommunikation mit der Bevölkerung, und so weiter. Die zweite:
       Die Tiere werden eingefangen und in einen Zoo oder in eine Gegend gebracht,
       in der schon Wisente leben, etwa in Polen, Rumänien oder dem Kaukasus.
       
       [2][Drittens könnten die Wisente den Weg der Luchse im bayerischen Wald
       gehen]. Dort waren die heimischen Raubkatzen in den 1970er Jahren
       ausgesetzt worden, mangelhaft kommuniziert und gegen den Willen der
       einheimischen Bevölkerung. Es ist ein offenes Geheimnis, das Wilderei dafür
       sorgt, dass der Luchs sich in der Gegend nicht stabil vermehrt und
       ausbreitet. Und so könnten auch die Wisente aus Wittgenstein in den
       nächsten Jahren still und leise einfach wieder verschwinden.
       
       10 Oct 2022
       
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