# taz.de -- Vegane Ernährung: Hölle auf Erden
       
       > Ein paar Quadratmeter mehr reichen weder für Tier- noch für Klimaschutz
       > aus. Alles spricht für einen schnellen Ausstieg aus der Tierindustrie.
       
       Die Ampelregierung feiert es als großen Durchbruch: Am 12. Oktober hat das
       Bundeskabinett ein Gesetz zur Tierhaltungskennzeichnung beschlossen. Fünf
       verschiedene Haltungsstufen sollen Transparenz beim Fleischeinkauf
       schaffen. Außerdem gibt es eine Milliarde Euro Förderung für den Stallumbau
       sowie für laufende Kosten der Tierhaltung.
       
       Das Ganze gilt als Startschuss für den „Umbau der Tierhaltung“ und dieser
       ist die Antwort des Landwirtschaftsministeriums auf all die Probleme, die
       mit dem aktuellen System der Tierindustrie verbunden sind. Das Ziel sei
       eine Tierhaltung, die dem Tierschutz und dem Klimaschutz gerecht werde,
       verkündete Ernährungs- und [1][Landwirtschaftsminister Cem Özdemir] am Tag
       des Beschlusses.
       
       Tatsächlich lassen sich aber mit dem geplanten Umbau der Tierhaltung diese
       hehren Ziele gar nicht erreichen. Die Maßnahmen sind in Anbetracht der
       realen Probleme nicht nur unzureichend, sondern sogar kontraproduktiv. Es
       braucht eine andere, viel mutigere Agrarpolitik – verbunden mit einer
       sinnvollen Ernährungspolitik, die endlich anerkennt, dass die Ernährung
       keine bloße Privatsache ist.
       
       Ziel der neuen Kennzeichnung ist laut dem Ministerium, die „Leistung der
       Landwirtinnen und Landwirte für eine artgerechtere Tierhaltung sichtbar“ zu
       machen und so für mehr Tierschutz zu sorgen. Welche Bedingungen heute in
       Ställen und Schlachthöfen herrschen, ist zwar regelmäßig im Fernsehen zu
       sehen, wenn Politmagazine heimlich gedrehte Videos veröffentlichen.
       Trotzdem benennt kaum jemand in Medien oder Politik das Elend, ohne zu
       verharmlosen.
       
       Die Tierindustrie bedeutet für hunderte Millionen von Hühnern, Puten,
       Schweinen und Rindern nichts anderes als die Hölle auf Erden. Mit
       überzüchteten Körpern eingesperrt auf engstem Raum, leiden sie unter
       massiven Bewegungseinschränkungen und Beschäftigungslosigkeit, dazu kommen
       Stress, Angst, üble Krankheiten und Verletzungen.
       
       ## 16 Schweine auf einem Autoparkplatz
       
       Die Kennzeichnung und die Milliardenförderung ändern daran so gut wie
       nichts. Zunächst soll nur Schweinefleisch gekennzeichnet werden.
       Fördergelder sind für Umbauten in höhere Stufen vorgesehen. Die
       zweitschlechteste Stufe schreibt für Mastschweine 20 Prozent mehr Platz
       vor. Das bedeutet, dass man auf der Fläche eines Standard-Autoparkplatzes
       statt 16 nur 13 Schweine einsperren darf.
       
       In der nächsten Stufe dürfen es noch elf Schweine pro Parkplatz sein und es
       muss eine offene Stallseite für Frischluft geben. In der besten Stufe, der
       Biohaltung, bekommen die Schweine „Auslauf“ – was gut klingt, ist in der
       Realität eine betonierte Außenbucht, wobei die Fläche eines Autoparkplatzes
       für zwölf Schweine reicht.
       
       In keiner dieser Haltungsformen können die Schweine im Boden wühlen, was
       sonst eine ihrer Hauptbeschäftigungen wäre. Sie können sich weder suhlen
       noch ihre Neugier und ihr Sozial- und Familienverhalten ausleben. In
       höheren Haltungsstufen sind die Tiere auch nicht weniger krank – die
       Gesundheit ist gar kein Kriterium bei der Kennzeichnung. Die Bedingungen
       bei Transport und Schlachtung bleiben ebenfalls gleich. Das kurze Leben der
       Schweine wird also weiterhin die Hölle auf Erden sein.
       
       Die geplanten Veränderungen sind bloße Kosmetik in einem System, das auf
       Ausbeutung und Gewalt beruht. Auch im Hinblick auf die anderen fatalen
       Folgen der Tierindustrie schafft ein Umbau von Ställen keine Verbesserung.
       Um die immensen Treibhausgasemissionen zu verringern, braucht es einen
       drastischen Abbau der Tierzahlen, der außerdem unverzichtbar ist, um den
       Landverbrauch zu stoppen, Verschwendung zu begrenzen und die globale
       Ernährungssicherheit zu verbessern.
       
       ## Ausbeutung und Gewalt
       
       Auf freiwerdenden Flächen könnte man Moore wiedervernässen, Wälder pflanzen
       oder andere Ökosysteme renaturieren, wodurch auch Treibhausgase eingelagert
       würden. Studien zeigen, dass sich mit einer globalen Umstellung auf
       pflanzliche Nahrung die Gesamtemissionen der Menschheit um ganze 28 Prozent
       verringern ließen. Das zeigt die Dimensionen auf, um die es geht. Vor dem
       Hintergrund, dass uns gerade buchstäblich die Welt wegbrennt, dürfen wir
       uns diese Chance nicht entgehen lassen.
       
       Die Regierung formuliert zwar immer mal wieder als Ziel, dass weniger Tiere
       gehalten werden, unternimmt aber konkret nichts. Wenn Stallumbauten
       gefördert werden ohne Verpflichtung zum Abbau, kann das hohe Tierzahlen
       stabilisieren: Wer heute in einen Umbau investiert, will mit dem neuen
       Stall noch 30 Jahre Geld verdienen. Aber was ist die Alternative? Statt
       halbherzigen Reförmchen braucht es jetzt einen konsequenten Ausstieg aus
       der Tierindustrie.
       
       Denn um Tier-, Umwelt- und Klimaschutz gerecht zu werden, müssen sehr viele
       Ställe in Deutschland nicht nur umgebaut, sondern geschlossen werden. Es
       ist klar, dass eine solche Transformation für die betroffenen
       Landwirt*innen gerecht gestaltet werden muss. Zu diesem Zweck muss es
       Entschuldungs- und Entschädigungsprogramme geben, wie sie in den
       Niederlanden teilweise schon umgesetzt werden.
       
       Außerdem braucht es Beratungsangebote und Förderung für die Umstellung auf
       andere Betriebszweige. Das ist letztlich sogar fairer, als wieder Anreize
       für Investitionen in eine Tierhaltung zu schaffen, die nicht zukunftsfähig
       ist. Die Tierindustrie drastisch abzubauen und dann zu beenden, ergibt
       natürlich nur Sinn, wenn sich die Ernährungsweisen entsprechend verändern.
       Wenn wir weiterhin dieselben Mengen an Fleisch, Milch und Eiern verzehren,
       müssten die Produkte aus dem Ausland kommen.
       
       ## Ernährung ist keine Privatsache
       
       Damit wäre wenig gewonnen. In der Politik herrscht allerdings bis heute das
       Dogma vor, dass die Ernährung eine reine Privatsache sei. Kurz nachdem der
       Grüne Özdemir vor einem Jahr das Landwirtschaftsministerium übernommen
       hatte, beeilte er sich zu betonen: „Wer wann was isst, geht den Minister
       für Ernährung und Landwirtschaft und die Bundesregierung nichts an.“ Genau
       dieselbe Idee hatten auch seine Vorgänger*innen im Amt aus CDU und CSU
       immer wieder unterstrichen:
       
       Andere Menschen oder gar der Staat haben sich in die Ernährung der
       Bürger*innen nicht einzumischen. Dieses Dogma ist aber ebenso falsch wie
       gefährlich. Denn erstens sind die Folgen der vorherrschenden
       Ernährungsweisen nicht privat. Wenn Millionen Tiere überall im Land
       [2][furchtbare Qualen] erleiden, geht uns das alle an. Wenn die Erzeugung
       von Tierprodukten riesige Mengen an knappen Böden und Ressourcen
       beansprucht und die [3][Klimakatastrophe] befeuert, betrifft das die ganze
       Gesellschaft.
       
       Zweitens sind nicht nur die Folgen, sondern auch die Ursachen, also die
       Bedingungen und Einflussfaktoren dafür, was Menschen essen, nicht privat.
       Das Ernährungsverhalten hängt nämlich stark davon ab, was überhaupt
       angeboten wird und zu welchem Preis. Davon, was seit der Kindheit als
       normale Ernährung eingeübt wurde. Ebenso davon, was kulturell und sozial
       als gutes Essen gilt.
       
       All diese Faktoren sind auch Resultate politischer und anderer kollektiver
       Entscheidungen – und diese Dimension wird ausgeblendet, wenn man die
       Verantwortung allein den Konsument*innen zuschiebt. So hat die Politik
       über die letzten Jahrzehnte unter anderem mit finanziellen Förderungen die
       Tierindustrie mit aufgebaut und stützt sie weiterhin. Das beeinflusst
       Angebot und Preise. [4][Kita- und Schulessen] sowie Werbung prägen
       Gewohnheiten und Vorlieben.
       
       ## Höhere Steuern für Tierprodukte
       
       An solchen Stellschrauben kann und muss man ansetzen. Zu den Maßnahmen
       gehört: Kantinen auf pflanzliche Verpflegung umstellen. Tierprodukte höher
       besteuern, pflanzliche Produkte günstiger machen. Subventionen umschichten.
       Werbung für Tierprodukte verbieten. Aufklärungskampagnen über die Vorteile
       pflanzlicher Ernährung veranstalten. Weiterbildungen für Köch*innen
       organisieren. Solidarische Landwirtschaften und günstige pflanzliche
       Mittagstische fördern.
       
       Ist es illusorisch, zu denken, dass die Bevölkerung solche Maßnahmen
       akzeptieren würde? Immerhin zogen doch die Grünen 2013 mit ihrem sehr
       moderaten Vorschlag, einen [5][Veggie-Day] in Kantinen einzuführen, einen
       von Medien befeuerten Sturm der Entrüstung auf sich, der sie womöglich auch
       Wählerstimmen kostete.
       
       Nun, zum einen ist das fast zehn Jahre her und die gesellschaftliche
       Stimmung hat sich seitdem durchaus geändert. Zum anderen hängt viel daran,
       wie das Thema präsentiert und diskutiert wird. Sehr aufschlussreich sind
       zum Beispiel die Ergebnisse des [6][Bürgerrats Klima]. Dort waren letztes
       Jahr 160 zufällig ausgewählte Bürger*innen zusammengekommen, um über
       Maßnahmen zum Klimaschutz unter anderem im Bereich Ernährung zu beraten.
       
       ## Aufklärung ist entscheidend
       
       Nachdem sie fundierte Informationen aus der Wissenschaft erhalten und
       kontrovers diskutiert hatten, verabschiedeten sie Empfehlungen für
       ernährungspolitische Maßnahmen, die weit über das hinausgehen, was die
       Parteien aktuell fordern oder umsetzen wollen. Aufklärung ist also ein
       wichtiger Faktor, aber auch das Framing:
       
       Es ging beim Bürgerrat Klima gerade nicht darum, individuelle
       Konsumentscheidungen zu bewerten, sondern darum, für eine
       gesellschaftliche Krise gemeinsame Lösungen zu finden, die dann alle
       mittragen müssen. Unter diesen Bedingungen waren fast alle Mitglieder auch
       zu persönlichen Änderungen bereit. Unglücklicherweise werden die
       Empfehlungen des Bürgerrats Klima von der Politik nicht umgesetzt.
       
       Die Ampelregierung hat sich zwar die Entwicklung einer Ernährungsstrategie
       in den Koalitionsvertrag geschrieben, es gibt aber keine Anhaltspunkte
       dafür, dass sie tatsächlich den Konsum von Tierprodukten deutlich
       verringern will. Das ist sicher auch dem Einfluss der Fleischkonzerne
       geschuldet, die über den [7][Lobbyverband der Geflügelindustrie] sogar den
       letzten Grünen-Parteitag mit sponserten.
       
       Damit sich etwas verändert, sind daher gute Argumente und Appelle nicht
       genug: Nur mit entschlossenem Protest und Widerstand wird sich die
       Tierindustrie ins Wanken bringen lassen. Nur mit vielen Initiativen von
       unten und mehr Druck aus der Bevölkerung wird die Ernährungswende
       tatsächlich stattfinden. Hier sind wir alle gefragt.
       
       23 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/143-erntedank.html
 (DIR) [2] /Tierquaelerei-in-der-Fleischindustrie/!5886502
 (DIR) [3] /Kommentar-Fleischkonsum-und-Klima/!5350806
 (DIR) [4] /Fleischverzicht-in-Kita-und-Grundschule/!5885563
 (DIR) [5] /Fleischverzicht-als-Wahlkampfthema/!5061858
 (DIR) [6] https://buergerrat-klima.de/
 (DIR) [7] https://cms.gruene.de/uploads/documents/Transparenz%C3%BCberscht-BDK-22.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Schmitz
       
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