# taz.de -- Nato-Beitritt von Schweden: Stockholms Wahlhilfe für Erdoğan
       
       > Der schwedische Regierungschef reist nach Ankara. Dort will er mit einer
       > Kehrtwende in der Kurdenpolitik die Blockade zum Nato-Beitritt lösen.
       
 (IMG) Bild: Will eine schnelle Lösung des Nato-Beitritts als ersten außenpolitischen Erfolg: Ulf Kristersson
       
       STOCKHOLM taz | Wenn Schwedens [1][Ministerpräsident Ulf Kristersson] am
       Dienstag in Ankara dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan seine
       Aufwartung macht, kommt er nicht mit leeren Händen. Die Zeit, in der
       Stockholm der kurdischen YPG in Syrien und deren politischem Zweig, der
       PYD-Partei, humanitäre Hilfe geleistet habe, sei vorbei, sagte Tobias
       Billström, der Außenminister der neuen blau-braunen Regierung, am Samstag
       in einem Interview.
       
       Das ist eine Kehrtwende. Die letzten beiden sozialdemokratisch geführten
       schwedischen Regierungen haben die YPG und die PYD politisch und finanziell
       unterstützt. Im letzten Jahr kündigten die Sozialdemokraten eine
       Aufstockung der Hilfe an.
       
       Solche Unterstützung sei „nicht gut für die Beziehungen zwischen uns und
       der Türkei“, begründet Billström den neuen Schwenk: „Schwedens
       Mitgliedschaft in der Nato wiegt schwerer.“ Es sei von großer Bedeutung,
       „Fortschritte bei den Verhandlungen mit der Türkei zu machen“. Dabei
       stünden YPG und PYD im Wege: „Diese Organisationen haben zu enge
       Verbindungen zur PKK, die ja der EU als Terrororganisation gilt.“
       
       Damit opfert Schwedens neue Regierung drei Wochen nach Amtsantritt YPG und
       PYD, die Verbündete des Westens im Kampf gegen die IS-Terrormiliz waren.
       Damit schwenkt Schweden nicht nur aus der gemeinsamen Linie der meisten
       westeuropäischen Länder aus, sondern nähert sich auch Erdoğans
       Gleichstellung von PKK und YPG an.
       
       ## Kristersson: „Sehr viel Verständnis“ für Erdoğans Sorgen
       
       Was steht als Nächstes an? Regierungschef Kristersson reagiert auf diese
       Frage bislang ausweichend. Natürlich halte sich seine Regierung an
       schwedisches Recht und internationale Konventionen, betont er. Zugleich
       halte er den Antiterrorkampf der Türkei für „legitim“, habe „großen Respekt
       für die Beschlüsse Ankaras“ und „sehr viel Verständnis“ für Erdoğans
       Sorgen. Selbstverständlich müsse sich Schweden auch an mit der Türkei
       getroffene Abkommen halten.
       
       Die Türkei hat neben Ungarn, das offenbar eine türkische Entscheidung
       abwartet, als letzter Staat der Nato-Erweiterung noch nicht zugestimmt.
       Eine Mitgliedschaft Finnlands könne die Türkei mittlerweile separat
       akzeptieren, sagte Erdoğan kürzlich, nicht aber die Schwedens.
       
       Stockholm habe nämlich bisher nicht die „notwendigen Schritte“ unternommen,
       sagt er am Freitag nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens
       Stoltenberg. Schweden sei eine „Brutstätte des Terrorismus“ und gefährde
       die Sicherheit der Türkei auch deshalb, weil es AktivistInnen der
       kurdischen PKK Asyl gewähre.
       
       Zu Erdoğans zehn Forderungen an Schweden hatte neben der Einstellung
       jeglicher Unterstützung für die syrisch-kurdische YPG/PYD, die Stockholm
       nun zusagte, die Auslieferung von bis zu 73 „Terroristen“ gehört.
       
       Im Juni hatten [2][Schweden, Finnland und die Türkei beim Nato-Gipfel in
       Madrid ein „trilaterales Memorandum“] unterzeichnet. Darin sind die beiden
       Beitrittskandidaten der Türkei weit entgegengekommen. Sie verpflichteten
       sich, die Aktivitäten aller „terroristischen Organisationen und deren
       Ableger, ebenso wie der von Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerken, die mit
       diesen verbunden sind“, zu verhindern.
       
       ## Außenpolitik-Institut: „Stockholm stärkt Erdoğans Narrativ“
       
       Damit haben sie aus türkischer Sicht nichts anderes versprochen als „eine
       Unterstützung der Inhaftierung von Oppositionsabgeordneten, gewählten
       Lokalpolitikern, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten“, kritisiert
       Thomas Hammerberg, früherer Menschenrechtskommissar des Europarats.
       
       Stockholm habe sich „türkischen Interessen angepasst“, heißt es auch in der
       Analyse des schwedischen [3][Außenpolitischen Instituts (UI)]. Erdoğan
       könne sich nun als der starke Führer präsentieren, der „laschen
       europäischen Staaten, die ihre Straßen nicht frei von Terroristen halten
       können“, auf die Sprünge helfe. Das stärke sein Narrativ von der Türkei als
       Großmacht und lenke von dessen ernsten wirtschaftlichen Problemen ab.
       
       Die Analyse sieht im „Madridabkommen“ ein neues Element der schwedischen
       Politik. Es enthalte Zugeständnisse an einen ausländischen Staat, wie sie
       Stockholm in den letzten Jahrzehnten nie gemacht habe: „Bei der Abwägung
       zwischen realpolitischen Erfordernissen und rechtsstaatlichen Prinzipien
       balanciert man auf einem sehr schmalen Grat.“
       
       Der wird womöglich noch schmaler, nachdem die Regierung verkündet hat, den
       Rechtsschutz im Ausländerrecht weiter aufzuweichen. Laut
       Regierungsprogramm, das die Handschrift der rechtsextremen
       Schwedendemokraten trägt, will sie Rechtsgrundlagen zum Entzug des
       Aufenthaltsrechts für Nichtstaatsangehörige schaffen, wenn diesen
       „fehlerhafter Lebenswandel“ oder „Anmerkungen zur Lebensart“ vorzuwerfen
       sind oder ihr Aufenthalt „grundlegende schwedische Werte bedroht“.
       
       ## Kurden in Schweden fürchten jetzt Auslieferung
       
       Zu den türkischen Forderungen „haben wir eine andere Position“ und nicht
       das „Gepäck“, das die Sozialdemokraten „mit der Kurdenfrage“ gehabt hätten,
       sagt Außenminister Billström. Deshalb finde man mit Erdoğan vermutlich
       „leichter“ eine Lösung.
       
       Auffallend nannte der Minister in seinen Statements zur Türkei wiederholt
       diese „Demokratie“. Auch nach Mediennachfragen hielt er an dieser
       Charakterisierung fest. Es gebe dort ja „freie Wahlen“. Das beweise
       „entweder völlige Unkenntnis oder sei bewusste Unwahrheit“, kritisierte ihn
       der Staatswissenschaftler Staffan Lindberg, Leiter des
       Demokratieforschungsinstituts der Universität Göteborg.
       
       Er sei „echt besorgt“, ausgeliefert zu werden, zitierte die Tageszeitung
       ETC den kurdischen Verfasser Hamza Yalzin, der vor fünf Jahren wegen eines
       von der Türkei über Interpol erwirkten Haftbefehls schon einmal in
       Auslieferungshaft saß: „Erdogan hat die Nachgiebigkeit der schwedischen
       Politiker gesehen.“ Er werde „deshalb weiter Druck machen, um
       Zugeständnisse zu bekommen“.
       
       ## Die Zeit arbeitet eigentlich für Schweden
       
       „Stück für Stück gibt man ihm nach“, schreibt der aus Kurdistan stammende
       Verfasser Kurdo Baksi in Dagens Nyheter. Erst habe Stockholm im Sommer das
       2019 gegen die Türkei verhängte Waffenembargo aufgehoben und liefere wieder
       Militärmaterial, nun folge ein Staatsbesuch, mit dem Kristersson „einen
       Despoten ehrt, der vielleicht nur noch ein paar Monate an der Macht ist“.
       Schwedens Regierungschef sei für den international zunehmend isolierten
       Erdoğan „ein Geschenk des Himmels“. Kristersson lasse sich als Wahlhelfer
       einspannen.
       
       Finnische PolitikerInnen reagierten verwundert auf Schwedens Kursänderung
       in Sachen YPG/PYD. Diese sei „sehr unglücklich“, erklärte die liberale
       Parlamentsabgeordnete Eva Biaudet, Schweden habe „sich erpressen lassen“:
       Finnland werde seine Haltung nicht ändern.
       
       Auch die UI-Analyse rät davon ab, sich wegen des Nato-Beitritts unter Druck
       setzen zu lassen. Für Schweden arbeite die Zeit: „In der Türkei nähert sich
       der Wahlkampf, und dort will die Regierungspartei AKP den Wählern offenbar
       internationale Erfolge präsentieren können, bevor die innenpolitische
       Bedeutung des Themas nach der Wahl wieder schwinden dürfte.“
       
       Kristersson aber scheint die Vollendung des Nato-Beitritts unbedingt zu
       seinem ersten außenpolitischen Erfolg machen zu wollen.
       
       7 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ministerpraesident-in-Schweden-gewaehlt/!5888405
 (DIR) [2] https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2022/6/pdf/220628-trilat-memo.pdf
 (DIR) [3] https://www.ui.se/utrikesmagasinet/analyser/2022/oktober/talamod-en-dygd-nar-sverige-hoppas-slippa-turkiskt-veto/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reinhard Wolff
       
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