# taz.de -- Soziologe über Ausbeutung im Job: „Gewerkschaftliche Macht nimmt ab“
       
       > Gewerkschaften und Betriebsräte stehen unter Druck. Der Soziologe Klaus
       > Dörre über die problematischen Machtverhältnisse in der Arbeitswelt.
       
 (IMG) Bild: Streik bei Amazon 2014 in Rheinsberg
       
       taz: Herr Dörre, in welcher Lage befinden sich Gewerkschaften, Betriebsräte
       und aktive Arbeiter:innen heute? 
       
       Klaus Dörre: Wir verzeichnen eine Abnahme gewerkschaftlicher
       Organisationsmacht, die nicht nur den Organisationsgrad umfasst, sondern
       auch die Zahl der Aktiven, die bereit sind, in Konflikte zu ziehen. Wir
       haben eine Erosion der institutionellen Macht, also immer weniger abhängig
       Beschäftigte, die unter einen Tarifvertrag fallen. Die Zahl der Betriebe
       mit Mitbestimmung geht deutlich zurück.
       
       Das verteilt sich auf zwei Welten von Arbeitsbeziehungen: einen
       schrumpfenden Sektor, in dem es noch Tarifverträge und geregelte
       Mitbestimmung durch Betriebsräte gibt, wo Gewerkschaften noch
       vergleichsweise hohe Sozialstandards durchsetzen können. Das gilt vor allem
       für die großen Unternehmen der Automobilindustrie, die Systemzulieferer,
       den öffentlichen Dienst und die Chemieindustrie.
       
       Andererseits haben wir eine expandierende zweite Welt, wo das alles so
       nicht mehr gilt. Das galt auch noch nie für die IT-Branche, für viele
       personenbezogene Dienstleistungen sowie kleine und mittlere Unternehmen
       oder Handwerksbetriebe.
       
       Welche Rolle spielt dabei [1][Union Busting] oder die Behinderung von
       Betriebsräten? 
       
       In die beschriebene Lücke stoßen militante Arbeitgeber und ihre
       Anwaltskanzleien. Die sind weder im Geist der Sozialpartnerschaft
       sozialisiert, noch wollen sie wissen, dass sozialer Friede eine
       Produktivkraft ist. Geschäftsführungen von Amazon oder Zalando, aber selbst
       das Top-Management der Deutschen Post handeln nach harten Profitkriterien.
       
       Da gibt es die Vorstellung, dass [2][Gewerkschaften] ein Auslaufmodell
       sind. Diese Grundhaltung wird übersetzt in: „Wenn sie schon ein
       Auslaufmodell sind, dann nutzen wir die Gelegenheit und schaffen sie uns
       vom Hals.“ Dagegen anzugehen ist schwierig, weil man den sogenannten
       Häuserkampf von Betrieb zu Betrieb führt.
       
       Oft geht es darum, überhaupt erst einmal Standards wie einen arbeitsfähigen
       Betriebsrat durchzusetzen. Das ist anspruchsvoll, weil Gewerkschaftsarbeit
       immer wieder neu anfangen muss, mobilisierungsfähig werden muss, und das
       geht nicht, ohne dass das im Betrieb, im Büro in der Verwaltung Aktive
       vorantreiben.
       
       Wie ließe sich die Entwicklung der Machtverhältnisse wenden? 
       
       Die Zeiten, in denen Gewerkschaftssekretäre stellvertretend verhandeln,
       sind vorbei. Der entscheidende Punkt ist, dass die Beschäftigten es nach
       wie vor selbst in der Hand haben. Dafür müssen sie aktiv werden, ihre
       Interessen und Freiheiten solidarisch mit anderen durchsetzen und
       erkämpfen.
       
       Wo finden sich Lichtblicke im Sinne der Beschäftigten? 
       
       Zum Beispiel im [3][Streik an den Unikliniken in NRW]. Verdi hat dort mit
       dem Einfluss auf die Personalbemessung faktisch ins Direktionsrecht
       eingegriffen. Wie viel Personal man braucht oder wen man einstellt, oblag
       bis dahin immer nur dem Management. Hier hat Verdi mit einem
       Erzwingungsstreik die Mitbestimmung auf zuvor entscheidungsverschlossene
       Bereiche ausgeweitet.
       
       Oft sind es aber weniger spektakuläre Alltagsbeispiele. Der langjährige
       Betriebsratsvorsitzende von VW im hessischen Baunatal, Carsten Bätzold, hat
       sich offen gegen das dominante Geschäftsmodell der Automobilindustrie
       positioniert. Es sei weder sozial noch ökologisch nachhaltig. Trotz der
       7.000 bedrohten Arbeitsplätze wurde er mit über 90 Prozent wiedergewählt,
       weil er sich als authentischer Interessenvertreter engagiert und
       glaubwürdig nach Alternativen sucht.
       
       16 Dec 2022
       
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 (DIR) Christian Lelek
       
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