# taz.de -- Verkehr und Klima: Rasen ohne Tempolimit
       
       > Des Deutschen liebstes Spielzeug darf nicht angetastet werden. Dabei
       > würde ein kleiner Verzicht weniger Menschen großen Gewinn für viele
       > bedeuten.
       
 (IMG) Bild: Das Recht auf unbegrenzte Geschwindigkeit auf der Autobahn gehört zu Deutschland wie die Waffen zu den USA
       
       Auf 70 Prozent der Autobahnkilometer in Deutschland bestehen keinerlei
       Geschwindigkeitsbeschränkungen. Schnell zu fahren, ist in Deutschland seit
       jeher ein Teil unserer Kultur. Deutschland ist das einzige Industrieland
       weltweit, in dem es gesetzlich erlaubt ist, auf der Autobahn so schnell zu
       fahren, wie man will. Dieser Umstand sorgte neben der Konzentration von
       Autoherstellern der Luxuskategorie im Süden des Landes stets für eine
       gewisse Faszination im Ausland.
       
       Schon in den 1970er Jahren machte der ADAC den Slogan „Freie Fahrt für
       freie Bürger“ populär. Nach der Nazidiktatur mit all ihren absurden
       Regelungen und Verboten – ein Tempolimit gehörte dazu, denn es galt, mit
       Rohstoffen zu sparen – war man froh, die Kriegstraumata zu überwinden,
       indem man sich von jeglichen staatlichen Zwängen befreite. Dieses Bedürfnis
       scheint bis heute fortzuleben. Das Rasen ohne Tempolimit ist am ehesten
       noch mit dem Recht auf Waffenbesitz in den USA vergleichbar.
       
       Viel zu lange wagten es die politischen Parteien nicht, an dieser
       kulturellen Tradition zu rühren, auch wenn dies angesichts des
       fortschreitenden Klimawandels [1][mehr als angebracht] wäre. Doch die neue
       Ampelkoalition könnte hier ihre Chance nutzen: Es gibt genug
       umweltpolitische und ethische Gründe für ein Tempolimit. Die Frage ist, ob
       die Gesellschaft, die Politik und die deutsche Autoindustrie bereit sind,
       diesen evolutionären Schritt zu wagen?
       
       Ein Tempolimit kann der Gesellschaft Leid ersparen. Es gäbe weniger Unfälle
       und damit [2][weniger verkehrsbedingte Tote und Verletzte]. Zwar sinkt die
       Zahl der Verkehrstoten auf der Autobahn, aber die Zahl der Leicht- und
       Schwerverletzten durch Verkehrsunfälle steigt seit 2010 wieder an. Stefan
       Bauernschuster und Christian Traxler von der Universität Passau haben
       nachgewiesen, dass im Vergleich zu ähnlich entwickelten Staaten wie
       Großbritannien, Schweden oder Dänemark, wo ein Tempolimit besteht, die
       Fahrt auf den Autobahnen in Deutschland deutlich gefährlicher ist.
       
       ## 148 Menschenleben
       
       Die heutzutage niedrige Zahl von Todesopfern auf unseren Autobahnen eignet
       sich ohnehin schlecht als ethisches Argument. Wichtiger Maßstab wäre der
       Blick auf den Schaden, der durch den Verzicht auf ein Tempolimit entsteht.
       Es geht darum, das Leben und Wohlbefinden der Verletzlichsten in den Blick
       zu nehmen, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Man stelle sich nur
       einmal vor, wie sich ein Unfallopfer fühlt, das bei einem Autounfall durch
       überhöhte Geschwindigkeit zu Schaden gekommen ist.
       
       Sollten solche Unfälle durch ein Tempolimit vermieden werden können, steht
       das Recht auf schnelles Fahren gegen die Gefahr, dadurch verletzt zu
       werden. Ethisch ist die Antwort klar: Die Gesellschaft hätte den größeren
       Nutzen davon, wenn Unfälle vermieden würden. Das Argument gegen ein
       Tempolimit, Zeitersparnis durch höhere Geschwindigkeit, ist ein rein
       ökonomisches.
       
       Ulrich Schmidt vom Kiel Institut für Weltwirtschaft hat [3][in seiner
       Studie dargelegt], dass die wirtschaftlichen Verluste durch ein allgemeines
       Tempolimit größer wären als der allgemeine Nutzen für die Gesellschaft. Man
       könnte auch sagen, dass dieser Studie zufolge das Überleben von 148
       Menschen pro Jahr weniger Gewicht hat als wirtschaftliche Einbußen von 6,7
       Milliarden Euro. Aus ethischer Sicht ist es allerdings problematisch,
       einem menschlichen Leben einen Preis zu geben – nicht zuletzt, wenn man
       sich vorstellt, selbst eine dieser 148 Personen zu sein.
       
       ## Kostenlos CO2 einsparen
       
       Dennoch müssen wir hier nicht nur auf die Zahl der Verkehrstoten schauen.
       2019 gab es [4][etwa 30.000 Menschen], die durch Unfälle auf der Autobahn
       leicht oder schwer verletzt wurden. In Brandenburg führte ein Tempolimit
       von 130 Kilometer pro Stunde auf einem Abschnitt der A24 ab 2002 dazu, dass
       sich die Zahl von Unfällen [5][nahezu halbierte]. Doch die politischen
       Entscheidungsträger legen bei diesem Dilemma eine Art kognitiver Dissonanz
       an den Tag.
       
       Die „Vision Zero“ des Bundesverkehrsministeriums nennt die Zahl der
       Verkehrsopfer „nicht hinnehmbar“. Trotzdem gab es keine gesetzlichen
       Initiativen für ein Tempolimit. Das ausgerechnet zu einer Zeit, in der wir
       mit allen Kräften gegen die Erderwärmung kämpfen. Niemand zweifelt heute
       mehr an, dass schnelles Fahren nicht nur mehr verletzte Menschen fordert,
       sondern zudem massive negative Auswirkungen für die Umwelt und den
       CO2-Ausstoß hat.
       
       [6][Laut Umweltbundesamt] war der Verkehrs- und Transportsektor 2019 mit
       164 Millionen Tonnen – 20 Prozent der Gesamtmenge – eine der wesentlichen
       Quellen von Treibhausemissionen. Rund ein Viertel davon entfielen auf
       Pkws und Kleintransporter. Die Bundesregierung will die CO2-Emissionen
       durch den Straßenverkehr bis 2030 um 65 Millionen Tonnen senken. Durch ein
       Tempo 120 könnten pro Jahr rund 2,6 Millionen Tonnen eingespart werden.
       
       Dies seien umgerechnet nur 1,4 Prozent der Emissionen, die durch den
       Verkehr entstehen und sogar nur 0,27 Prozent der deutschen
       Gesamtemissionen, so bemängelte der Verband der Automobilindustrie 2021.
       Das mag stimmen, doch die CO2-Einsparungen durch ein Tempolimit ließen sich
       ohne jede Kosten erreichen, während in anderen Branchen die Verringerungen
       in der Regel großen Aufwand voraussetzen.
       
       ## 60 Prozent befürworten Tempolimit
       
       Aus der ethischen Perspektive könnte man auch fragen, was zukünftige
       Generationen von uns denken mögen, wenn wir angesichts der drohenden
       Klimakatastrophe nicht einmal die Geschwindigkeit auf den Autobahnen
       antasten wollen? Die anthropozentrische Haltung, die nur an das Heute
       denkt, steht im Widerspruch zu dem Gedanken der Nachhaltigkeit, also einer
       Wirtschaftsweise, die nach den Worten der Brundtland-Kommission „die
       Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige
       Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“.
       
       Weltweit sind also dringend deutliche Reduktionen beim Ausstoß von
       Treibhausgasen geboten. Deutschland hat den Anteil erneuerbarer Energien
       bei der Stromerzeugung in der ersten Hälfte des Jahres 2022 auf fast 50
       Prozent gesteigert. Doch was sollen künftige Generationen von uns denken,
       wenn es uns nicht gelingt, für das Wohlergehen der Gesellschaft völlig
       unnütze Emissionen zu vermeiden?
       
       Wir müssen die Erde als zusammenhängendes System begreifen, in dem es
       nichts nützt, an einer Stelle CO2 einzusparen, wenn wir ansonsten eine
       zerstörerische Lebensweise beibehalten. Zumindest in Umfragen zeigt sich,
       dass die Öffentlichkeit in Deutschland nicht mehr so sensibel auf das
       Reizwort Tempolimit reagiert. Langsam schwenkt die Mehrheit um: [7][Laut
       Umweltbundesamt befürworten mehr als 60 Prozent] der Befragten im Interesse
       des Umweltschutzes und der Sicherheit ein Tempolimit auf der Autobahn.
       
       Bleibt die Frage, wie lange egozentrische Wirklichkeitsleugner ihr
       Bedürfnis nach ungebremstem Rasen durch Deutschland noch verteidigen
       können. Nicht zuletzt gibt es noch die nicht zu unterschätzenden indirekten
       Folgen eines Tempolimits: Seit vielen Jahren werden die Autos in
       Deutschland immer PS-stärker, schwerer, größer und schneller. Eine
       Geschwindigkeitsbegrenzung könnte dies ändern.
       
       Was nützt eine Höchstgeschwindigkeit von 200 Kilometer pro Stunde und mehr,
       wenn sie gar nicht mehr gefahren werden darf? Warum sollte man solche Autos
       überhaupt noch kaufen? Auf dem flachen Land wird das Autofahren oft noch
       verteidigt, weil der ÖPNV zu löchrig ist. Ein Tempolimit könnte den Druck
       auf die Politik erhöhen, den ÖPNV auszubauen und das Wort von der
       Mobilitätswende ernstzunehmen.
       
       ## Den meisten sind Raser unangenehm
       
       Die Automobillobby und Mitglieder einer liberalen Partei behaupten, dass
       Geschwindigkeitsbegrenzungen Stress und Frustration für Autofahrer erhöhen
       können. Doch wenn wir die Idee des subjektiven Universalismus auf diesen
       Fall anwenden, müssen wir uns eine durchschnittliche Person hinter dem
       Lenkrad vorstellen. Laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten
       [8][Studie fahren nur 2 Prozent schneller als 160] Kilometer pro Stunde,
       davon einige erheblich schneller.
       
       Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit 130 auf der Autobahn und überholen
       einen Lkw, und auf der dritten Spur rast plötzlich ein Auto mit 200
       Stundenkilometer oder schneller an Ihnen vorbei. Dies bedeutet sicherlich
       für die meisten Menschen einen kurzen, aber höchst unerfreulichen
       Schreckmoment. Selbst der ADAC hat ermittelt, dass [9][zu schnelles Fahren,
       kombiniert mit zu dichtem Auffahren], Verkehrsteilnehmer auf der Autobahn
       am meisten stresst.
       
       Der durchschnittliche Autofahrer wird durch die kleine Minderheit der
       Fahrer, die von ihrem „Recht auf Geschwindigkeit“ Gebrauch machen, also
       regelmäßig belästigt. Eine letzte ethische Frage könnte aufgeworfen werden,
       wenn eine solche allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt werden
       würde. Sobald ein Prozess der gesellschaftlichen Selbstreflexion begonnen
       hat, kann Ethik dabei helfen, neue Ziele zu definieren und neue normative
       Fragen aufzuwerfen.
       
       Mit einem Tempolimit stellt sich nach logischem Nachdenken die Frage, warum
       Autos überhaupt schneller fahren können als erlaubt? Warum sollten wir
       überhaupt die Möglichkeit schaffen, das Gesetz zu brechen, wenn die
       Gesellschaft es für unnötig hält, schneller als ein bestimmtes Limit zu
       fahren? Wie wir gesehen haben, hat von einem ethisch-philosophischen
       Standpunkt aus ein Tempolimit aus vielerlei Gründen das Potenzial, Leid zu
       verringern und das Wohlbefinden der Gesellschaft zu vergrößern. Aus „freie
       Fahrt für freie Bürger“ würde „freie Mobilität für glückliche Bürger“.
       
       Aus dem Englischen von Stefan Schaaf
       
       21 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-was-bringt-ein-tempolimit-auf-autobahnen,SdEUSXg
 (DIR) [2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/12/PD22_512_46241.html
 (DIR) [3] https://www.ifw-kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/IfW-Publications/-ifw/Kiel_Policy_Brief/2020/KPB_145.pdf
 (DIR) [4] https://www.wiwi.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/fakultaeten/wiwi/lehrstuehle/bauernschuster/sonstiges/BauernschusterTraxler_Tempolimit_final.pdf
 (DIR) [5] https://www.tagesspiegel.de/potsdam/brandenburg/halb-so-viele-tote-bei-tempo-130-7518328.html
 (DIR) [6] https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/klimaschutz-im-verkehr#undefined
 (DIR) [7] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/366/dokumente/uba-kurzpapier_tempolimit_autobahnen_kliv_0.pdf
 (DIR) [8] https://www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/thomas-puls-jan-marten-wendt-77-prozent-der-autofahrer-fahren-langsamer-als-130-km-h.html
 (DIR) [9] https://www.adac.de/verkehr/umfrage-genervte-autofahrer/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Luis Kepplinger
       
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