# taz.de -- Tanztheater am Schauspiel Frankfurt: Die Gewalt wohnt dem Menschen inne
       
       > Helle Momente in einer beklemmenden Zeit: Die Choreografin Saar Magal hat
       > in Frankfurt das eindringliche Tanzstück „10 Odd Emotions“ entwickelt.
       
 (IMG) Bild: Szene aus „10 Odd Emotions“ am Schauspiel Frankfurt
       
       Als könnte man noch einmal all das Verlorene sichern, legen die Figuren in
       Saar Magals Stück „10 Odd Emotions“ am Schauspiel Frankfurt den Bühnenraum
       mit Papieren aus. Offenbar scheint es ihr Bestreben, ein gigantisches
       Archiv gegen das Vergessen zu errichten. Die Papiere zeugen womöglich von
       Einzelschicksalen, Opfern der Geschichte.
       
       Während Sätze wie „Sie soll nicht rauskommen, auch wenn sie Schreie hört“
       oder „Sag ihr, das war, bevor sie geboren wurde“ herumgeistern und das
       Assoziationsfeld von Deportationen aufrufen, bricht das augenscheinliche
       Ordnungsmanöver jäh zusammen. Ein Durcheinander der Stimmen und Bewegungen
       sowie eine lauter werdende Percussion sprengen den Raum. Schlussendlich
       fallen von oben weitere Seiten auf die Bühne, wie Schnee, der sich über das
       kollektive Gedächtnis legt und sogar eine der Darstellerinnen auf der Bühne
       begräbt.
       
       Wie geht man mit historischer Verantwortung um und wie lässt sich eine
       Gesellschaft davon abhalten, die Schrecken von einst einfach unter den
       Alltagsteppich zu kehren? Ohne sich auf eine konkrete Handlung festzulegen,
       erzählt die in Israel geborene Regisseurin und Choreografin Saar Magal in
       einer fulminanten, szenischen Kaskade, die Tanz ([1][Dresden Frankfurt
       Dance Company]), Schauspiel und Live-Musik pointiert verbindet, von
       zeitlosen Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen, deren Bilder
       schlaglichtartig in die vermeintliche Normalität vordringen.
       
       ## Die Masse gegen den Einzelnen
       
       Wie fragil allein unsere Gegenwart ausfällt, verdeutlicht bereits der
       Beginn der sich insbesondere mit Antisemitismus und Rassismus
       beschäftigenden Crossover-Inszenierung. Als gesichtslose Puppen in
       Abendgarderobe betreten die Akteurinnen und Akteure die von weißen Wänden
       gerahmte Bühne, um sich mit roboterartigen Bewegungen zum Ball einzuladen.
       Da die menschliche Gemeinschaft aber nie eine friedliche Cocktailparty war,
       kippt die Atmosphäre rasch. Hier und dort kommt es zu Schlägereien in
       Zeitlupe. Die Gewalt, so die Aussage dieses Prologs, sie wohnt dem Menschen
       inne – vor allem dort, wo sich die Masse gegen den Einzelnen formiert.
       
       Oft wird man im Laufe des Abends verschiedener marschartiger Interludien
       gewahr, bei denen zumeist eine oder einer aus der Gruppe fällt. Mal hebt
       man diese Verletzten auf, mal erklingen nur harte Anweisungen wie: „Alles
       wird totgeschossen.“
       
       Obgleich die anspielungsreichen Darbietungen nie an Drastik sparen,
       erweisen sie sich an keiner Stelle als grobschlächtig. Denn zum einen
       entwirft Magal einen weiten Assoziationsraum, in dem beispielsweise eine
       zuvor brutale Menge unversehens den Charakter eines Sklavenchors annimmt,
       zum anderen gelingt ihr eine überzeugende Stimmungsvariation. Repressiven
       Mustern, derer man in dynamischen Choreografien gewahr wird, schließen sich
       nämlich auch zarte Impressionen an.
       
       So etwa im Anschluss an den Blätterregen: Als ließe sich wieder ein
       Gleichgewicht der unlängst aus den Fugen geratenen Welt herstellen,
       balancieren die Protagonistinnen und Protagonisten Bücher auf ihren Köpfen.
       Ein anderer wiederum nimmt die Bücher und begräbt mit ihnen die im vorigen
       Chaos Verstorbene. Nachdem alle anderen gegangen sein werden, kämpft sie
       sich wieder ins Dasein vor.
       
       ## Landschaft aus Eisschollen
       
       Durch geschicktes Licht und die weißen Papiere erinnert das Parkett sodann
       an eine Landschaft aus Eisschollen. Umfasst von sanften Klavierklängen
       windet sich die Wiederauferstandene, himmlisch verkörpert von Adaya
       Berkovich, durch den metaphorisch aufstiebenden Schnee, wobei sie auch
       immer wieder in sich zusammensinkt.
       
       Traum und Ohnmacht, Sehnsucht und Verzweiflung verdichten sich in einem
       intensiven Augenblick.
       
       Doch nichts ist in dieser Inszenierung von Dauer. Erst recht nicht die
       Unschuld. Auf die Revitalisierung des Opfers folgen Männer, die die Papiere
       mit all den unverwahrten Geschichten wegkehren. Sobald das Vergessen somit
       besiegelt ist, organisiert sich ein Großteil des Ensembles wieder im
       Gleichschritt. Peitschenhiebe fallen, wenige Verwundete stolpern mit
       Krücken.
       
       Lässt sich dieses atemlose Wechselspiel aus Zerstörung und Aufbegehren
       endlos fortsetzen? Natürlich muss am Ende die Katastrophe eintreten. Fast
       alle Darstellerinnen und Darsteller stürzen in einen Bühnengraben. An ihrer
       Stelle fahren zuletzt ungezählte elektrische Plastikbabypuppen empor. Die
       falsche Normalität, sie wird einfach an die nächste Generation
       weitergegeben.
       
       Trotz dieses beklemmenden und grotesken Ausgangs feiert dieser Abend
       letztlich auch das Trotzdem. Er ringt um die Macht und Kraft des Einzelnen,
       der sich in einem grauenhaften Reigen aus Folter und Wegschauen zu bewähren
       versucht. Was es dazu braucht, ist Mut, wie ihn Magals formvollendete und
       kraftvolle Komposition vermittelt. Sie scheut nicht die Auseinandersetzung
       mit dem Lärm unserer Zeit. Im Gegenteil, erst in seiner Gegenwart werden
       helle Momente der Erkenntnis und vereinzelt sogar der Schönheit vernehmbar.
       
       24 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Björn Hayer
       
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