# taz.de -- Ersatzfreiheitsstrafe für Arme: Im Kampf gegen die Klassenjustiz
       
       > Ein Mann sitzt im Gefängnis, weil er kein Geld hat. Es müsste sich was
       > ändern, sagt er – und ist mit der Forderung nicht allein.
       
 (IMG) Bild: Ein Insasse der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee auf dem Flur vor seiner Zelle
       
       BERLIN taz | Der Weg zu Mathias Grimm führt durch surrende
       Sicherheitsschleusen, vorbei an Mauern mit Stacheldrahtkronen, vergitterten
       Fenstern und Beamten mit Schlüsseln, die nicht fotografiert werden dürfen.
       Ganz klar, das ist ein echtes Gefängnis. Aber ist Grimm, dessen Name für
       diesen Text geändert wurde, auch ein „echter Häftling“?
       
       Er trägt blaue Häftlingskleidung, die Haare kurz. Still sitzt er in der
       Zelle mit der kleinkarierten Bettwäsche und dem Klo gleich hinter der Tür.
       Zum achten Mal ist der 38-Jährige in der [1][Justizvollzugsanstalt
       Plötzensee]. Immer wegen nicht bezahlter Geldstrafen fürs Fahren ohne
       Ticket.
       
       Diesmal sind es 100 Tagessätze, einen Teil wird er in dem Berliner
       Gefängnis abarbeiten. Grimm ist schwerer Alkoholiker. An die Nacht, in der
       ihn Polizisten hierherbrachten, kann er sich nicht erinnern. „Ich trinke,
       um die Psyche wegzukriegen“, sagt Grimm. Deshalb ist er hier gelandet, im
       Knast.
       
       Er ist einer von zehntausenden Menschen, die in Deutschland 2022 eine
       Ersatzfreiheitsstrafe absitzen mussten, weil sie eine Geldstrafe nicht
       bezahlen konnten. Eine genaue Zahl gibt es nicht, sie wird nicht erhoben.
       Manche sitzen einige Tage ein, manche Monate. Die Ersatzfreiheitsstrafe
       sollte eigentlich die Ausnahme sein, Ultima Ratio für zahlungsunwillige
       Menschen mit kleinen Vergehen. Inzwischen sind die Gefängnisse voll mit
       Menschen wie Mathias Grimm.
       
       ## Für Armut bestraft
       
       2022 hat der Jurist und Journalist Ronen Steinke ein Buch veröffentlicht.
       In „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ [2][berichtet er von einer
       „neuen Klassenjustiz“.] 80 Prozent aller Strafen sind inzwischen
       Geldstrafen. Arme Menschen werden dabei häufiger und ungleich härter
       bestraft, und sie sind es auch, die immer häufiger im Gefängnis landeten,
       prangert Steinke an. Das Buch wurde ein Bestseller.
       
       „Dass sich seit vielen Jahren nichts Grundsätzliches an der
       Ersatzfreiheitsstrafe ändert, obwohl die Diskriminierung armer Menschen
       lange bekannt ist, zeigt, dass die Regierungsparteien damit offenbar kein
       großes Problem haben“, sagt Arne Semsrott, Gründer des [3][Freiheitsfonds].
       Die Initiative kauft mit Spenden Menschen frei, die im Gefängnis sitzen,
       weil sie mehrfach ohne Fahrschein erwischt wurden. 637 seien es bislang,
       knapp 45.000 Hafttage mussten nicht abgesessen werden.
       
       An der Kriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein lasse sich gut
       veranschaulichen, wie ungerecht das System sei, sagt Semsrott. „Deswegen
       konzentrieren wir uns darauf.“ Für den 15. März ruft der Freiheitsfonds zum
       nächsten Freedom Day auf: Gefangene sollen bundesweit befreit werden.
       
       ## Für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen
       
       Die Initiative ist Teil eines breiten Bündnisses zur Abschaffung der
       Ersatzfreiheitsstrafen. Auch Mitali Nagrecha gehört dazu. Die amerikanische
       Juristin vermutete im deutschen System eine Alternative zur Ungerechtigkeit
       in den USA. Doch was sie fand, bezeichnet auch Nagrecha als „ein System von
       Klassenjustiz“.
       
       2021 gründete sie das Justice Collective, das als Teil des Bündnisses für
       ein gerechteres Justizsystem kämpft. Minimalziel ist die
       Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein. „Die politische Diskussion
       hinkt der öffentlichen hinterher“, sagt Nagrecha [4][zu den aktuellen
       Bemühungen der Ampelkoalition]. Es gebe ein politisches Festhalten an
       Bestrafung, das die Öffentlichkeit gar nicht verlange. „Die Gesellschaft
       ist bereit für Reformen“, ist Nagrecha sich sicher.
       
       Zurück hinter die Mauern der Justizvollzugsanstalt. Nur in dieser Enge
       schaffe er es, trocken zu bleiben, sagt Mathias Grimm. „Da draußen ist der
       Alkohol.“ Der lässt ihn die schwere Kindheit vergessen, aber auch aus
       Wohneinrichtungen fliegen und ohne Ticket in die U-Bahn steigen. Hier
       drinnen, nach dem harten Entzug gehe es ihm für kurze Zeit etwas besser,
       sagt er.
       
       Dass Strafen wie die von Mathias Grimm unverhältnismäßig sind, darin sind
       sich die meisten Praktiker*innen, Jurist*innen und die
       Aktivist*innen einig. „Da muss sich was ändern“, sagt auch Grimm. Aber
       die Welt, die sich hinter den Mauern von Gefängnissen wie Plötzensee
       offenbart, stellt noch ganz andere Aufgaben an die Politik als eine
       Überarbeitung des Strafgesetzbuchs. „Wie grausam man das Leben in
       Unfreiheit findet, hängt auch davon ab, wie grausam das Leben in Freiheit
       ist“, schreibt Ronen Steinke in seinem Buch.
       
       27 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manuela Heim
       
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