# taz.de -- Sachbuch übers deutsche Justizsystem: Wenn Armut bestraft wird
       
       > Ronen Steinkes „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ zeigt die Abgründe
       > unseres Justizsystems. Es ist Analyse und Reportage zugleich.
       
 (IMG) Bild: Bringt die schreiende Ungerechtigkeit auf den Punkt: Journalist und Buchautor Ronen Steinke
       
       Der Titel des Buches mag etwas übertrieben klingen, wenn man sich mit dem
       Thema nicht auskennt – aber auch nur dann. Ja, mag man denken, vielleicht
       gibt es die ein oder andere Ungerechtigkeit im Justizsystem. [1][Ronen
       Steinke] belehrt uns eines Besseren und öffnet den Blick auf etwas, das man
       einen zivilisatorischen Abgrund nennen kann. „Vor dem Gesetz sind nicht
       alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ ist die akribische Untersuchung eines
       Justizsystems, das für Mittellose zerstörerisch ist.
       
       Da ist etwa jener Paragraf, der besonders hohe Strafe verlangt, wenn jemand
       stiehlt, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Klaut ein Obdachloser
       drei Rasierer im Wert von 59,97 Euro, fällt seine Strafe meistens höher aus
       als bei einer Person, die das nicht so nötig hat. Dem Obdachlosen wird
       nämlich „Gewerbsmäßigkeit“ unterstellt: die Absicht, sich an dem Diebesgut
       zu bereichern.
       
       Da ist außerdem die Tatsache, dass es in Deutschland keine
       Pflichtverteidigung gibt: Nur bei besonders schweren Delikten wird eine
       Pflichtverteidigung gestattet – das trifft nur auf 10 Prozent aller Fälle
       zu. Wer sich die Anwältin also nicht leisten kann, steht alleine da.
       
       ## Arme werden bestraft
       
       Steinke variiert zwischen gut informierter Analyse und Reportage vor Ort.
       Und die hat es in sich, denn es sind Orte, von denen man nicht unbedingt
       weiß, dass es sie gibt. Jenes Gefängnis voller Inhaftierter, die niemals
       von Richter*innen zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, sondern wegen
       Zahlungsunfähigkeit hier landen. Jener Hinterraum im Landeskriminalamt, ein
       Schnellgericht, in dem arme Menschen ohne Anwaltsschutz innerhalb von 10
       Minuten mit teils existenziellen Urteilen „abgefertigt“ werden.
       
       Was im Hartz-IV-System schon Tatsache ist, erweist sich vor Gericht und in
       polizeilichen Ermittlungen als eben so wahr: Wer in Deutschland arm ist,
       bekommt keine Unterstützung, sondern wird bestraft.
       
       In dieser Welt werden Drogen- und Alkoholprobleme nicht etwa als ein
       zusätzliches Leid verstanden, sondern als besondere Schuld. So wird
       Ungerechtigkeit auf vielen Ebenen reproduziert: formell durch Gesetze,
       praktisch durch weit verbreitete Vorurteile und Stigmatisierungen.
       
       ## Schreiende Ungerechtigkeit
       
       Der Autor benennt allerdings auch die Kehrseite: eine erschreckende
       Bevorteilung der Reichen. Die können ihre verhältnismäßig geringen
       Strafzahlungen als Manager, je nach Fall, aus der Unternehmenskasse zahlen
       und von der Steuer absetzen.
       
       Oftmals wird das Verfahren aber sowieso eingestellt, weil die Gerichte
       schlicht keine Kapazitäten haben, sich mit großen Anwaltsteams
       auseinanderzusetzen. In dieser Gegenüberstellung bringt Steinke die
       schreiende Ungerechtigkeit auf den Punkt: Es gibt keine Gleichbehandlung,
       sondern es gibt Menschen mit Vermögen und Menschen ohne Vermögen.
       
       Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch viel Öffentlichkeit erhält, Debatten
       anfacht und seinen Weg in die Politik findet. Denn nicht nur ruft es nach
       dringend notwendige Reformen, die eine Demokratie sich schuldig ist. Es
       weist in der bloßen Benennung der Zustände auch über sich selbst hinaus.
       
       Wenn etwa eine verarmte und kognitiv eingeschränkte Rentnerin für den
       Diebstahl einer Packung Kerzen verurteilt wird, die sie „für ihre
       Gemütlichkeit“ am einsamen Weihnachtsfest brauchte, dann mag man nicht nur
       das Strafmaß (40 Tage) anzweifeln. Sondern auch das Wirtschafts- und
       Sozialsystem, das systematisch und institutionell so viele Menschen in
       derart entwürdigende Zustände treibt.
       
       16 Mar 2022
       
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