# taz.de -- Neues Buch „Terror gegen Juden“: Religion unter Belagerung
       
       > Der Journalist Ronen Steinke untersucht in dem Buch „Terror gegen Juden“,
       > wie der deutsche Staat beim Schutz von Minderheiten versagt. Etwa in
       > Halle.
       
 (IMG) Bild: Die Tür, die Schlimmeres verhinderte. Synagoge in Halle einen Tag nach dem Anschlag
       
       Eine Anklage“, so lautet der Untertitel des neuesten Buchs von [1][Ronen
       Steinke]. Der Autor ist Journalist, zugleich aber auch Jurist. Seine im
       Berlin-Verlag erschienene Schrift „Terror gegen Juden. Wie antisemitische
       Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ beschränkt sich jedoch nicht auf
       Paragrafen und Urteilssprüche. Steinke schildert, wie der Alltag der in
       Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden im Schatten einer kaum gebannten
       Bedrohung verläuft.
       
       Jüdische Einrichtungen sind abgeschottet hinter hohen Mauern. Auf die
       Polizei war und ist in dieser Hinsicht kein Verlass. Der Anschlag auf die
       [2][Synagoge in Halle] vor ungefähr neun Monaten führte das nochmals
       drastisch vor Augen. Einfache Maßnahmen zum Schutz am Gebäude wurden von
       den Behörden nicht ergriffen, Bewachung durch die Beamte gab es keine, von
       einem jüdischen Feiertag – es war Jom Kippur – hatte man angeblich noch nie
       gehört, und als die Schüsse fielen, wurde nur ein Streifenwagen geschickt,
       weil ein Kellerdiebstahl als wichtiger erachtet wurde.
       
       Die Tür, die Schlimmeres verhinderte, finanzierte eine jüdische
       Organisation, nicht aber das Land Sachsen-Anhalt. Dass der Attentäter in
       seinem antisemitischen Wahn vermutete, der deutsche Staat würde so viel
       Geld für Juden ausgeben, dass das Gebäude schusssichere Fenster habe, war
       geradezu absurd. Der deutsche Staat hat sich dafür nämlich keineswegs
       interessiert. Das ist es, was Steinke anklagt.
       
       Das Buch kommt – neben einer fast achtzig Seiten umfassenden Chronik
       antisemitischer Gewalttaten seit 1945 – im Stil eines geschwind lesbaren
       Reportageessays daher. Steinkes Gesprächspartner stammen aus den jüdischen
       Gemeinden, aus Wissenschaft, Politik, Polizei, Justiz und Geheimdienst. Sie
       berichten von der alltäglichen Bedrohung. Und von der ebenso alltäglichen
       Verharmlosung und Abwiegelung durch Ermittlungs- und
       Strafverfolgungsbehörden.
       
       Zahlreiche antisemitische Straftaten werden nicht zur Anzeige gebracht, bei
       den offiziellen Statistiken muss man von einer Untererfassung ausgehen. Die
       wiederum tritt typischerweise überall dort auf, wo Ungleichbehandlungen
       größeren Ausmaßes zugrunde liegen, wie auch bei rassistischer oder
       polizeilicher Gewalt.
       
       ## Antisemit als Liebling der Medien und der Linken
       
       Eindrücklich schildert Steinke, wie 1980 in Erlangen bei der Ermordung
       eines Rabbiners und seiner Lebensgefährtin zunächst im Umfeld des Opfers
       ermittelt und dessen Lebenslauf medial ausgeschlachtet wurde. Dringend
       tatverdächtige Mitglieder der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe
       Hoffmann ließ man jedoch unbehelligt. Wie beim NSU.
       
       Und bei dem [3][Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin am
       9. November 1969 durch die linksterroristischen Tupamaros West-Berlin]
       wurde der Sprengkörper durch einen Verfassungsschutzagenten bereitgestellt.
       Steinke kritisiert, dass der Tupamaros-Gründer und -Anführer Dieter
       Kunzelmann trotz der Offenbarung seiner antisemitischen Gesinnung als
       Liebling der linken Szene und der Medien fungieren konnte. Judenhass ist
       für Steinke mithin kein Privileg der Rechten. Neben dem linkem nennt er
       ebenfalls muslimischen Antisemitismus.
       
       Auf den von Politikern gern zu repräsentativen Jahrestagen und für leere
       Beileidsbekundungen bemühten heuchlerischen Ton der „besonderen deutschen
       Verantwortung“ verzichtet Steinke in seiner Anklage. Das tut der Sache gut,
       denn letztlich geht es um etwas Selbstverständliches, nämlich das Leben
       einer Minderheit frei von Angst. Davon ist man heute weit entfernt:
       „Judentum in Deutschland, das ist heute Religionsausübung im
       Belagerungszustand.“
       
       ## Aufrütteln und alarmieren
       
       Steinke will aufrütteln und alarmieren. Manche Feinheit geht dabei
       verloren: Die These vom Erstarken der antisemitischen Gewalt wird streng
       genommen gar nicht bewiesen, sondern eher eine kaum beachtete Kontinuität
       seit 1945 offenbart. Konkret schlägt Steinke eine stärkere Bestrafung von
       Hassverbrechen, eine mutigere Justiz, eine effektiv kontrollierte Polizei
       und einen besseren Schutz jüdischer Einrichtungen vor. Das aber sind kaum
       mehr als Akutmaßnahmen im Rahmen eines sicherheitsstaatlichen Denkens.
       
       Eine Bekämpfung des modernen Antisemitismus und seiner Ursachen hätte weit
       grundsätzlicher anzusetzen. Nach einem großartigen Witz von Woody Allen ist
       ein Baseballschläger durchaus eine wirksame Waffe im Kampf gegen
       Antisemiten, gegen Antisemitismus darf es aber auch an handfester
       Aufklärung über dessen gesellschaftliche Ursprünge nicht fehlen.
       
       25 Jul 2020
       
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