# taz.de -- Autor:innen über Protest in Iran: Feminismus und Revolution
       
       > Roya Hakakian und Sama Maani sprechen über die historische Besonderheit
       > der aktuellen Proteste in Iran. Die Gesellschaft verändere sich.
       
 (IMG) Bild: Gegen den Schah mit und ohne Hidschab: Frauen bei einer Demonstration in Teheran im Dezember 1978
       
       wochentaz: Frau Hakakian, Herr Maani, seit knapp vier Monaten protestieren
       Iraner:innen unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“. Was zeichnet
       diese Erhebung aus? 
       
       Roya Hakakian: Seit 1979 ist der Iran durch verschiedene turbulente Momente
       gegangen. Dieses Mal gibt es aber keine politische Partei oder
       Organisation, weder von links noch von rechts. Die Abwesenheit einer
       solchen politischen Infrastruktur ist ein Vorteil, das macht die Proteste
       weniger ideologisch. Die Proteste drehen sich um den grundlegenden
       menschlichen Wunsch nach einem normalen Leben. Das Problem ist allerdings,
       dass es ohne eine solche Infrastruktur kaum möglich ist, sich nachhaltig zu
       organisieren. Zudem fehlt jeder Dialog zwischen den Protestierenden und den
       Autoritäten. Früher gab es Forderungen nach höheren Gehältern oder nach
       einem unverfälschten Wahlergebnis. Heute heißt es nur: Geht! Das ist etwas
       grundlegend Neues, eine Unterbrechung.
       
       Sama Maani: Die aktuelle revolutionäre Bewegung strebt eine Korrektur der
       Geschichte an. Bereits von 1905 bis 1911 erkämpften Iranerinnen und Iraner
       eine demokratische Verfassung mit bürgerlichen Grundrechten. [1][Die
       Konstitutionelle Revolution] war gegen die absolutistische Monarchie der
       Kadscharen-Dynastie gerichtet. De jure galt die erkämpfte Verfassung sogar
       bis 1979 – auch wenn die beiden Monarchen der ab 1925 folgenden
       Pahlevi-Dynastie, abgesehen von einer demokratischen Phase zwischen 1941
       und 1953, de facto diktatorisch herrschten. Die Konstitutionelle Revolution
       war durch eine relative Säkularität und Liberalität, die Zuwendung zur
       westlichen Moderne und die wichtige Rolle der Frauen geprägt. Darauf
       reagierte eine religiöse Gegenbewegung um den Kleriker Fazlollah Nuri, auf
       die sich dann später auch Ruhollah Chomeini, der Führer der Islamischen
       Revolution, berief. Die aktuelle Protestbewegung will nun die Emanzipation
       der Gesellschaft von Religion fortführen, die 1905 begonnen und 1979
       unterbrochen worden war.
       
       In welchem Zusammenhang stehen die aktuellen Proteste mit grundlegenden
       Trends in der iranischen Gesellschaft? 
       
       Hakakian: Seit jeher insistiere ich: Der Iran ist mehr als das
       islamistische Regime, und die iranische Gesellschaft kann nicht auf das
       Religiöse und den Islam reduziert werden. Regelmäßig wurden mir eine
       verzerrte Wahrnehmung und Wunschdenken vorgeworfen. Nun aber ist es mehr
       als deutlich: [2][Die Theokratie hat viele Iraner:innen in Säkulare
       verwandelt].
       
       Maani: Hier möchte ich einhaken. 2020 hat die Universität Tilburg in einer
       repräsentativen Onlinestudie 40.000 Iraner:innen anonym nach ihren
       religiösen Überzeugungen gefragt. Demnach identifizieren sich nur 40
       Prozent als Muslime und sogar nur 30 Prozent als Schiiten. Das ist ein
       wichtiger Befund. Denn da der schiitische Islam die ideologische Basis des
       Gottesstaates Iran bildet, verweist die Umfrage auf die massive Entfremdung
       zwischen der iranischen Gesellschaft und dem islamischen Regime.
       
       Herr Maani, ihr 2021 veröffentlichter Roman „Žižek in Teheran“ handelt von
       einer fiktiven Frauenrevolution. Haben Sie reale Proteste von dieser
       politischen Radikalität für möglich gehalten? 
       
       Maani: In ihrer überwiegenden Mehrheit lehnen die über 80 Millionen
       Iraner:innen die Islamische Republik ab. Gleichzeitig gibt es aber
       hunderttausende Regime-Anhänger, die an die Ideologie der islamischen
       Herrscher glauben und auch bereit sind, für diesen ihren Glauben zu töten
       und zu sterben. Zum Teil sind sie als Basidschi oder Revolutionsgarden bis
       an die Zähne bewaffnet, gut organisiert und willens, Proteste brutal
       niederzuschlagen. Diese Kräfte standen dem Schah 1978/79 nicht zur
       Verfügung. Dass nun aber so viele Menschen bereit sind, für eine
       emanzipatorische politische Sache auf die Straße zu gehen und dabei auch
       ihr Leben zu riskieren – damit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet.
       
       Wie ordnen Sie den zentralen, inzwischen weltweit bekannten Slogan der
       Proteste, „Frau, Leben, Freiheit“, ein? 
       
       Hakakian: Für mich ist das ein Echo und eine Antwort auf die Grundidee der
       US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: „Leben, Freiheit und
       das Streben nach Glück“.
       
       Maani: Mir ist es wichtig zu betonen, dass die Parole aus dem syrischen
       Kurdistan stammt. Inzwischen wird sie überall im Iran skandiert: sowohl in
       den großen Städten wie Teheran als auch in entlegenen Gebieten, an
       Universitäten wie an Schulen. Wir begegnen hier einer noch nie dagewesenen
       Solidarität zwischen den verschiedenen Ethnien im Vielvölkerstaat Iran.
       
       Hakakian: Auch ich möchte die starke Beteiligung von Belutsch:innen und
       Kurd:innen hervorheben. Dazu kommt die Kontinuität der Proteste. Das ist
       historisch einmalig. So gab es nicht einmal 1979 vier Monate lang fast Tag
       und Nacht Proteste und Demonstrationen. Allerdings sind 2009, bei den
       Demonstrationen gegen den Wahlbetrug, Millionen Menschen auf die Straße
       gegangen. Aktuell sind wir allerdings noch bei unter 5 Prozent der
       Gesamtbevölkerung.
       
       Das öffentliche und ikonische Abnehmen von Kopftüchern gab es bereits bei
       den Protesten von 2017/18 und 2019. 
       
       Maani: Ja – aber dass die Kopftücher nun massenhaft abgenommen und sogar
       verbrannt werden, ist neuartig. Es unterstreicht den radikalen,
       feministischen Charakter dieser Revolution.
       
       Hakakian: Um den Bogen zum Ausland zu spannen – ich bin begeistert, dass
       nun auch Linke und Liberale im Westen stärker anzuerkennen scheinen, dass
       das Thema Hidschab verschiedene Implikationen hat. Wer sich in den
       westlichen demokratischen Ländern für das Recht muslimischer Frauen
       positioniert, den Hidschab zu tragen, kann diese Wahlfreiheit nicht
       anderswo negieren. Nur geht es im Iran um die Freiheit von religiösen
       Restriktionen wie dem Hidschab-Zwang.
       
       Auffällig ist das starke Echo, das die Proteste in der iranischen Diaspora
       ausgelöst haben. Ist das ebenfalls neu? 
       
       Hakakian: Die Diaspora besteht aus Linken, Royalisten, Anhängern der
       konservativen Volksmudschahedin und auch Iraner:innen, die sich mit keiner
       dieser Strömungen identifizieren. Dazu kommen noch die Regimetreuen, von
       denen manche als Spione gegen die Opposition aktiv sind. Trotz dieser
       politischen Heterogenität ist die Unterstützung der Proteste in der Tat
       sehr stark und in diesem Ausmaß auch neuartig. Siehe etwa die große
       Demonstration in Berlin oder am Europäischen Parlament in Straßburg für die
       Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation. Zentral für eine
       Weiterentwicklung der Proteste auch im Ausland wäre eine identifizierbare
       Führung.
       
       Sehen Sie eine solche entstehen? 
       
       Hakakian: Ich beobachte Bemühungen. Die sind allerdings zu langsam, um mit
       den Entwicklungen im Iran Schritt zu halten. Es gibt eine große Diskrepanz,
       und das ist gefährlich. Denn wenn die Bewegung vor Ort an Aufmerksamkeit
       verliert und wir im Ausland im Tempo hinterherhinken, geht das Momentum
       verloren.
       
       Auch jenseits der Diaspora erfahren die Geschehnisse im Iran große
       Aufmerksamkeit – weit mehr als bei vorigen Protesten. Wie erklären Sie sich
       das?
       
       Hakakian: 2009 etwa, als, so die ikonischen Bilder, wütende Frauen, in den
       Tschador gehüllt, ihre Fäuste in die Luft reckten, wurden die Proteste
       stärker als fremdartig wahrgenommen. Wenn nun ein Teenager den Hidschab
       abnimmt und anzündet, dann können sich Westler mit dieser Frustration, mit
       dem Streben danach, eine Wahl haben zu können, besser identifizieren.
       Insbesondere jetzt, wo hier in den USA die Idee der Wahlfreiheit im Zuge
       der Debatte um das Abtreibungsrecht so zentral ist. Die Protestierenden im
       Iran fordern sehr ähnliche Rechte, wie wir sie selbst im eigenen Leben
       haben oder haben wollen. Universelle Werte können nicht einigen Nationen
       vorenthalten werden – selbstverständlich auch nicht im Nahen Osten.
       
       Maani: Im deutschen Sprachraum wie auch im übrigen Europa gibt es die
       Tendenz, den Islam quasi als „Natureigenschaft“ von Menschen aus islamisch
       geprägten Gesellschaften aufzufassen. Das ist eine relativ neue Entwicklung
       seit den 1990ern und verstärkt seit 9/11. In der Außenpolitik etwa
       impliziert das die Vorstellung: Jede grundlegende gesellschaftliche
       Veränderung in Richtung Frauenrechte oder Demokratie müsse ausschließlich
       im Rahmen eines reformierten Islam erfolgen. Diese Sichtweise kam den – im
       Iran längst diskreditierten – systemtreuen Reformern zugute. Die aktuelle
       Entwicklung vor Ort, aber auch deren Hintergründe sollten uns veranlassen,
       diese Grundannahme gründlich zu überdenken.
       
       10 Feb 2023
       
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