# taz.de -- Navid Kermani „Das Alphabet bis S“: Lesen als Therapie
       
       > In „Das Alphabet bis S“ erzählt Navid Kermani aus weiblicher Perspektive.
       > Die frisch getrennte Erzählerin will alle Romane alphabetisch abarbeiten.
       
 (IMG) Bild: Navid Kermani besitzt das Talent, Lesen als inneres Drama oder Abenteuer des Lesenden zu inszenieren
       
       Das macht Navid Kermani so leicht niemand nach: den Sprung in die Szene, in
       den Konflikt, in die Situation. 365 Abschnitte – woher kennt man die Zahl
       noch mal? – hat „Das Alphabet bis S“, und immer wieder neu, liebevoll,
       rätselhaft, soghaft wird man hineingebeamt in diesen je neuen Tag
       unabhängig von den sehr unterschiedlichen Ereignissen, zähen Kümmernissen,
       inspirierenden Leseunternehmungen, depressiven Kulturpessimismen oder
       Alltagsbegegnungen zwischen Hunden und Joggern.
       
       In den ersten Sätzen fallen meist konkrete, oft uneingeführte Namen, werden
       Szenenbilder schnell und scharf hinschraffiert, und man ist mittendrin, hat
       aber den Zusammenhang mit einer der schon laufenden Erzählungen noch nicht
       begriffen. Wir wissen gerade nicht, dass der Protagonist des gerade
       gelesenen Romans so heißt, dass die Kölner Innenstadt oder der mediterrane
       Urlaubsort diesen oder jenen Namen bergen.
       
       Dann sind wir beim Zusammenreimen, und dann ist es doch ein vertrauter
       Strang, der aber nun als irgendwie neu und anders ausgeleuchtet ist,
       umgedeutet, all dem entrissen, was eine Leier werden könnte. Und das ist
       manchmal nötig. Wie der großartige und vergleichbare Vorläufer „Dein Name“
       hat auch „Das Alphabet bis S“ viele Stränge und Sprünge.
       
       ## Drohender Zerfall der Inneren Lebensstruktur
       
       Aber im Gegensatz zu der massiven Involviertheit des mitten im Leben
       Trauernden des Meisterwerks von vor zehn Jahren kennzeichnet den neuen
       Großroman doch eine starke Gravitation zu Doom und Verzweiflung:
       Sterbeerzählungen, Älterwerden, Verlust von Vertrauten, Gefahren für
       Geliebte. In der Summe ergibt das die Umrisse eines drohenden Zerfalls der
       Organisation des inneren Lebens, der sich dann auch auf die Meinungen zu
       und Perspektiven auf das öffentliche Leben, die Geschichte, die Politik,
       die Literatur und die Kunst in Richtung einer mürrischen Mutzigkeit
       auswirkt.
       
       Die Hauptfigur weigert sich etwa, ein Smartphone zu benutzen, und nimmt
       auch sonst nicht sehr enthusiastisch am zeitgenössischen Leben teil. Der
       psychologische Laie sagt: Hier geht es um den Umgang mit einer exogenen
       Depression und zwei Strategien dagegen, ein aufschreibendes,
       selbstbeobachtendes Verarbeiten und den Ausweg des Lesens – auch wenn die
       Hauptfigur der Depressionsdeutung erwartbar vehement widerspricht, als
       Herabsetzung und – unausgesprochen – Banalisierung dessen, was Trauer
       ausmache.
       
       Diese zweite Therapie, das Lesen, begründet auch den Romantitel und ist
       eine von zwei konzeptuell rahmenden Maßnahmen, die der Roman vornimmt.
       Durch eine Trennung wird im Bücherregal der Hauptfigur ein Umbau nötig, der
       Platz schafft und Bücher in Reichweite rückt, die vorher zu weit entfernt
       standen. Jetzt nimmt sie sich vor, die bisher ungelesenen Autor_innen in
       alphabetischer Reihenfolge durchzulesen.
       
       Da kann sich [1][Kermanis genresprengendes Talent] entfalten, Lesen als
       inneres Drama oder Abenteuer des Lesenden zu inszenieren. Das will immer
       wieder was anderes tun, als Philologie oder Rezension oder Fanfiction zu
       betreiben, trägt aber doch Züge von all diesen Verfahren eines wilden oder
       absoluten Lesens. Das Desiderat eines literaturbezogenen Gonzo-Journalismus
       – allerdings dann doch etwas frommer und achtsamer, als Hunter S. Thompson
       wäre, wenn er ein öffentlicher Leser geworden wäre.
       
       ## Fantastische Entdeckungen
       
       Leider hält die Hauptfigur nicht alle Leseversprechen (Hans Henny Jahnn,
       Uwe Johnson), verliert sich auch mal in Lektüren von Autoren, von denen man
       gonzoistisch sagen müsste, they bore the living daylight out of me (wie
       Cioran), aber er hat auch fantastische Entdeckungen für mich parat (Péter
       Nádas habe auch ich nie gelesen und wohl nie so) und die Freude, dass
       jemand alte Favourites aus der persönlichen Top 5 der Weltliteratur ganz
       anders entdeckt wie hier José Lezama Lima.
       
       Man könnte bei dieser Rezension auf die Idee kommen, der Rezensent hätte
       das rezensierte Buch gern selbst geschrieben. Ja und nein. Dies galt vor
       allem für „Dein Name“, das auf zwei Ideen basierte – das Ich des Autors nur
       perspektivisch von der Sicht der anderen her zu entfalten und für jeden
       Verstorbenen, den der Autor persönlich kennt, einen Nachruf zu schreiben –,
       die ich gern selbst realisiert hätte.
       
       Hier ist es nur das Abarbeiten der eigenen Bibliothek als ein weiterer
       objektivierender, regelhafter Versuch, der eigenen Subjektivität eine
       Dinghaftigkeit abzutrotzen, den ich schon immer selbst gerne realisiert
       hätte.
       
       ## Erzählung aus weiblicher Perspektive
       
       Der andere konzeptuell-rahmende Einfall ist eher irritierend, aber nicht
       nur ärgerlich und punktuell auch ganz stark: Kermani erzählt aus weiblicher
       Perspektive. Die Ich-Erzählerin gleicht ansonsten weitgehend dem Autor,
       macht dasselbe, denkt dasselbe, hat dieselben Aufträge, Loyalitäten,
       Interessen etc. Die weibliche Perspektive beschränkt sich auf wenige
       Szenen, eine heterosexuelle Affäre mit einem männlichen, real existierenden
       Autor (aus dem Alphabet) und die wiederkehrende Beschwerde über die
       gelesenen Autoren, dass sie – typisch für Männer – eitel seien.
       
       Die vom Mann als Ebenbild erfundene Frau erlaubt sich also mitunter eine
       klischeehaft feministische Anwandlung. Ansonsten ist die Erzählerin
       dezidiert keine Feministin, [2][gegen „Identitätspolitik“] und bei einer
       Diskussion mit der realen Helene Hegemann auch schon als
       „klerikalfaschistisch“ beschimpft worden.
       
       Was Kermani mit dieser Maßnahme bezweckt? Will er der der sogenannten
       Identitätspolitik zugeschriebenen Position, Leute einer bestimmten Sorte
       könnten nur für Leute einer bestimmten Sorte sprechen, widersprechen, indem
       er – omnipotenter Universalismus der schönen Literatur! – demonstriert,
       dass er auch das Gegenteil doch kann?
       
       Nun, diese viel gegeißelte, vermeintlich
       authentizistisch-identitätspolitische Position richtet sich ja vor allem
       negativ gegen die default Allzuständigkeit des immer schon unmarkierten
       weißen Cis-Hetero-Autors; also gegen ein Machtverhältnis, das die eigene
       Indifferenz und Selbstverständlichkeitsanmaßung falsch als Universalismus
       ausflaggt.
       
       ## Ungleichverteilung des Rederechts
       
       Darüber hinaus enthält sie in keiner mir bekannten relevanten Fassung
       explizit die ihr oft zugeschriebene Normativität einer prinzipiellen
       Zuständigkeit der immer nur je Betroffenen. Sie will Stimmen und Diskurse
       vermehren, nicht beschränken. Allerdings will sie die bisherige
       Ungleichverteilung des Rederechts politisieren – und da kriegen die, die
       immer schon Rederecht hatten, schnell die Panik.
       
       Oder will Kermani dem von ihm ungeliebten, aber angesagten Genre der
       Autofiktion eins auswischen, indem er deren bevorzugtes Thema Transition
       als eines vorführt, welches er mit bloßer Willens- und Einbildungskraft
       bewältigt (während alles andere so bleibt, wie es ist)? Dabei ist ja gerade
       Thema solcher autofiktionaler Transitionsliteratur (Preciado, Nelson,
       Wark), wie die Fiktionalität erzählter Figuren und die reale Transformation
       in Verbindung zueinander stehen, nämlich komplex und weder mechanisch noch
       authentizistisch.
       
       Beide Ideen fände ich so falsch wie unappetitlich. Als Einfall à la Oulipo
       – wie: einen Roman ohne den Buchstaben e schreiben – gehört es in den
       Bereich des belletristischen Sports. Stark ist aber, dass man beim Lesen
       tatsächlich die Stimme einer Frau und die Stimme Navids hört – der
       Rezensent kennt ihn persönlich –, das gerät zu einem seltsam queeren
       Effekt.
       
       Man hört Navid als Frau, das hat was. Gerade seine Energie, sein Können
       machen diesen Effekt aber oft schnell wieder kaputt, denn sein
       Mitteilungsdrang als der Typ, der er ist und den man kennt, setzt sich
       natürlich durch – gerade an den gelungensten Stellen, nicht als „wahres
       Selbst“, sondern als gut eingespieltes Können, als Flexen der
       Schreibmuskeln.
       
       ## Dialektische Zeitgenossenschaft
       
       Es entsteht so aber auch eine ganz merkwürdige und in mancher Hinsicht zum
       Projekt Kermanis sehr passende dialektische Zeitgenossenschaft. Kurz vor
       der Pandemie habe ich mal ein Seminar über Autotheorie und Autofiktion
       ausgerichtet, bei dem wir auch „Dein Name“ gelesen haben. Und der passte
       sehr gut zwischen all die von ihm vermutlich eher abgelehnten Autor_innen
       queerfeministischer Provenienz und auf der anderen Seite Leuten wie
       Knausgård.
       
       Mit seiner zentralen Geste gegen und mit dem (vermeintlichen) Zeitgeist
       rückt der Gegner des Genderns und Verfechter der alten Rechtschreibung in
       die Mitte einer von ihm abgelehnten Entwicklung und zappelt um sein Leben,
       den Erhalt der schriftstellerischen Autorität. Das ist ehrenwert und bar
       jeder Kastrationsangst, die sonst die Leute plagt, die an älteren
       Rechtschreibordnungen festhalten.
       
       Vor Kurzem hätte ich mit Kermani sein vorangegangenes Buch diskutieren
       sollen, religiöse Dialoge mit seiner Tochter. Die Pandemie hat es
       verhindert. Ich hatte mich aber damals gezwungen, mich mit der Religiosität
       des Autors zu beschäftigen, die ich bei meiner Begeisterung für frühere
       Texte ihre Wichtigkeit für den Autor verdrängend eher in Kauf genommen oder
       zu einer poetischen Spiritualität à la Free Jazz zurechtgedeutet hatte.
       
       Hier taucht sie nun in allen Darreichungsformen auf, tatsächlich als
       spirituelle Poesie, als theologische Nerdigkeit, als protestantische
       Frömmelei, die sich über originelle Kundmachungen von Kindermündern freut,
       als tiefgläubiger Überbietungswettbewerb mit einem an Martin Mosebach
       erinnernden erzkatholischen Freund namens Offenbach oder als
       parapolitischer Impuls zu einer Politik des Nichtertrinkenlassens.
       
       ## Rosinen der eigenen Weltanschauung
       
       Wer immer sich aus Kermanis religiösen Output also die Rosinen der eigenen
       Weltanschauung picken wollte, in meinem Fall den Free Jazz, die Empathie
       und das Nerdige, sieht sich hier mit dem Panorama ihres Zusammenhangs
       konfrontiert, der genau so wunderlich wirkt wie für ihn (oder sie)
       zeitgenössische Diskussionen und Überzeugungen, welche die Welt woke nennen
       würde.
       
       Diese Spiegelung bezeugt den Reichtum einer inneren Welt, der ich eher
       Weltverlust vorgeworfen hätte. Sie wird zeitgenössisch im Medium des
       Wunderlichen, das sich alle Beteiligten gegenseitig zuschreiben. Und dies
       bleibt nicht der einzige Moment, wo die Erzählerin, die sich von der
       Gegenwart und ihren Hundebesitzern innerlich abwendet, besonders
       zeitgenössisch wird.
       
       Sie ist ja auch auf ihrem eigenen Trip, hat nur all die [3][postkolonialen
       Feministinnen], die sich für das „Postsäkulare“ interessieren, noch gar
       nicht zur Kenntnis genommen und wie nahe man einander stehen könnte.
       
       19 Oct 2023
       
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