# taz.de -- Rassismustheorie auf dem Prüfstand: Theorie statt Bekenntnis
       
       > Ein Sammelband zeigt die Leerstellen aktueller Rassismustheorie. Statt um
       > die Bedingungen seiner Entstehung geht es oft nur um Bekenntnisse.
       
 (IMG) Bild: 15000 Menschen erinnerten in Berlin an den Tod des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt
       
       Auf kaum etwas können sich derzeit die unterschiedlichsten Menschen und
       Gruppen leichter einigen als auf das Bekenntnis, antirassistisch zu sein.
       Das Nein zum Rassismus ist längst nicht mehr nur auf linken Flugblättern zu
       finden, sondern gehört zur Standardrhetorik von Firmenmemoranden,
       Presseerklärungen und Werbekampagnen. Was aber in einem spezifischen Sinne
       als rassistisch gelten kann, worin das Phänomen seine Ursachen hat und wie
       es zu bekämpfen wäre, darüber herrscht alles andere als Einigkeit.
       
       Handelt es sich um ein Vorurteil, eine Struktur oder um eine quasi
       ontologische, unhintergehbare Conditio von Weißen? Welche Rolle spielt es
       für die Analyse von Rassismus, ob man selbst rassistisch diskriminiert wird
       oder nicht? Worin besteht der Unterschied zwischen Rassismus und
       Antisemitismus? Und warum ist die [1][Haltung des Antirassismus, wie bei
       der documenta fifteen zu beobachten war, durchaus vereinbar mit der
       Blindheit für antisemitische Aussagen, Bilder und Positionen]?
       
       Es ist vor diesem Hintergrund weder falsch noch übertrieben, über „Probleme
       des Antirassismus“ zu sprechen, wie es im Titel eines jüngst in der Edition
       Tiamat veröffentlichten Sammelbandes heißt. Im Zentrum der Kritik stehen
       dabei Theorieansätze, deren Prämissen, Thesen und Terminologien – häufig
       aus ihrem historischen und wissenschaftlichen Kontext gerissen – seit
       einigen Jahren medial, politisch und wissenschaftlich immer mehr an
       Bedeutung gewinnen: die Critical Race Theory, Forschungen zu
       Intersektionalität und Critical Whiteness sowie der Postkolonialismus.
       
       Der Anlass des von Ingo Elbe, Robin Forstenhäusler, Katrin Henkelmann, Jan
       Rickermann, Hagen Schneider und Andreas Stahl herausgegebenen Bandes ist
       ein „grundlegendes Unbehagen“ gegenüber diesen Strömungen, das sich auf
       deren theoretische Leerstellen, politische Implikationen und
       Schlussfolgerungen bezieht.
       
       Dazu gehört die in einigen Teilen des Critical-Whiteness-Milieus
       vorherrschende Neigung zu individualisierender Schuldrhetorik und
       Bußritualen, die zirkuläre Rückführung rassistischer Praktiken auf einen
       immer schon dagewesenen Rassismus, die De-Thematisierung von Rassismus und
       Antisemitismus in anderen Bereichen als der Mehrheitsgesellschaft, die
       einseitige und dämonisierende Kaprizierung auf Israel oder das Verwischen
       des Unterschieds zwischen Holocaust und Kolonialismus, zwischen Rassismus
       und Antisemitismus.
       
       ## Entkoppelung von Rassismus und politischer Ökonomie
       
       Darüber hinaus, so die Einleitung, wurden „gesellschaftstheoretische und
       empirische Rassismusanalysen an den Rand gedrängt“, was unter anderem
       in der Entkoppelung von Rassismus und politischer Ökonomie zugunsten einer
       Auflösung in verschiedene, wie es im Duktus der Intersektionalitätstheorie
       heißt, „sich überschneidende“ Diskriminierungsformen zum Ausdruck kommt.
       
       Dem begegnen die 19 Beiträge des Bandes mit einigem theoriegeladenen
       Aufwand – das Buch ist nicht weniger als 592 Seiten stark. Nicht nur werden
       in unpolemischer, quellennaher und sachorientierter Weise einige zentrale
       Begriffe der Debatte kritisch hinterfragt, zum Beispiel der Begriff des
       Privilegs, die Rede vom strukturellen Rassismus, der Vorwurf des
       Siedlerkolonialismus an die Adresse Israels oder das durch [2][Michael
       Rothberg popularisierte Theorem der „multidirektionalen Erinnerung“].
       
       Sie unternehmen darüber hinaus materialistische Rassismusanalysen aus einer
       historisch fundierten und sozialpsychologischen Perspektive in der
       Tradition der Kritischen Theorie, prüfen die Wirksamkeit antirassistischer
       Maßnahmen, wie die inzwischen immer mehr institutionalisierten
       Diversity-Trainings, oder setzen sich mit einzelnen Theoretikern wie
       Achille Mbembe oder Edward Said auseinander.
       
       Dass über Begriff, Praxis und Theorie des Rassismus beziehungsweise des
       Antirassismus gestritten wird, ist freilich keineswegs neu. Robert Miles
       kritisierte bereits Ende der 1980er Jahre eine Inflationierung des
       Rassismusbegriffs. Detlev Claussen sprach 1994 vom Antirassismus als
       „Kümmerform von Gesellschaftskritik“ und diagnostizierte der Linken eine
       Kompensation ihres historischen Bedeutungsverlustes durch moralische
       Gewissheit.
       
       Und 2012 kritisierten Juliane Karakayali, Vassili Tsianos, Serhat
       Karakayali und Aida Ibrahim den Critical-Whiteness-Ansatz als
       individualisierende, antiuniversalistische und letztlich unpolitische
       Initiative, die die Bekämpfung rassistischer Praktiken verhindert.
       
       Dass viele der in diesen Diskussionen verhandelten Fragen alles andere als
       erledigt sind, unterstreicht die Aktualität des Sammelbandes. Auch das zwar
       nicht von allen, aber doch einigen Texten in Anspruch genommene Projekt
       einer Gesellschaftstheorie, die mehr ist als die Aufrechnung von
       Diskriminierungsformen und die sich der Suche nach dem bestimmenden
       Unterschied und der historischen Urteilskraft verschreibt, verdient,
       hervorgehoben zu werden.
       
       Empfohlen sei der Band aber nicht nur Leserinnen und Leser, die dieses
       Interesse teilen. Seine Lektüre würde sowohl für diejenigen lohnen, die
       jede noch so zaghafte Kritik antirassistischer Ansätze reflexhaft als
       „rassistisch“ und „rechts“ abkanzeln, als auch für den durchaus existenten
       Typus des Kulturkämpfers, dem im Eifer über eine nur noch als Schlagwort
       evozierte „Identitätspolitik“ jeder Blick für rassistische
       Ungleichbehandlung verloren geht.
       
       8 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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